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Torte mit Staebchen

Torte mit Staebchen

Titel: Torte mit Staebchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Hornfeck
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zahlreicher. Ausgemergelte Gestalten, die, wenn sie Glück hatten, ihre Anzüge noch vorfanden   – zwei Nummern zu groß und nach Mottenkugeln riechend. Am 26.   August zog Tschiang Kai-schek mit seiner Armee in die Stadt ein. Er war dem japanischen Feind zwar fast überall militärisch unterlegen gewesen, wurde aber dennoch wie ein Sieger begrüßt. Auch Inge und Sanmao standen jubelnd und Fähnchen schwenkend am Straßenrand. Und wenige Tage darauf, am 2.   September, gab es gleich wieder was zu feiern, die Unterzeichnungdes Friedensvertrags. Diesmal waren die Läden und Häuser in den Hauptstraßen geschmückt mit den Flaggen der Siegermächte: die Vereinigten Staaten, England, die Sowjetunion und die Republik China.
    Schanghai war also wieder international, nur mit dem Unterschied, dass es jetzt eine chinesische Stadt war. Und diese Stadt ging zu ihrer gewohnten Tages-, beziehungsweise Nachtordnung über. Die Bordelle am Broadway hatten Hochbetrieb, und aus den Clubs und Tanzlokalen schallte Jazzmusik, die unter den Japanern verboten gewesen war. Die amerikanischen Soldaten brachten Lebensmittelpakete, Dollars und neue Lebenslust in die ausgehungerte Metropole. Auch die Kinos zeigten nach all den deutschen und japanischen Propagandastreifen endlich wieder ein attraktives Filmangebot.
    Sanmao hatte Inge ins Kino eingeladen. Diesmal würden sie keine blinden Passagiere bei einer Freiluftvorführung sein und sich auch nicht auf den billigen Plätzen die Hälse verrenken. Sie würden ins »Uptown« gehen, gleich um die Ecke vom »Café Federal«. Inge war begeistert; zwei Stunden lang neben Sanmao eine Hollywood-Schnulze mit dem vielversprechenden Titel »Honeymoon for Three« ansehen   – welche Möglichkeiten sich da boten! Inge war schon ganz zappelig.
    Sie hatten sich für die Nachmittagsvorstellung verabredet. Inge musste ja anschließend noch mit dem Rad nach Hause. Seit dem Vorfall mit den Japanern war sie vorsichtig geworden, betrunkeneMatrosen gab es nach wie vor genügend in der Stadt.
    Mit den neuen Filmen kamen auch die aktuellen Wochenschauen. Sanmao und Inge hatten es sich eben in ihren Sesseln gemütlich gemacht, als amerikanische Aufnahmen aus Deutschland gezeigt wurden: Bilder vom zerbombten Berlin, von ausgebrannten Straßenzügen und Frauen mit Kopftüchern, die in den Trümmern ihrer Häuser wühlten. Der amerikanische Kommentator benutzte sogar im Englischen das deutsche Wort »Trümmerfrauen«. Dann wurde die Befreiung eines deutschen Konzentrationslagers gezeigt: bis aufs Skelett abgemagerte, kahlgeschorene Männer in gestreiften Anzügen, die wie Schlafanzüge aussahen. Manche konnten sich vor Schwäche kaum auf den Beinen halten.
    Inge hatte sich aufgesetzt, sie biss sich in die geballte Faust, die sie in den vor Entsetzen geöffneten Mund presste, um nicht zu schreien. Sie sah ihren Vater vor sich, wie er mit geschorenem Kopf nach Hause gekommen war. Jetzt sah sie, was er damals gesehen und worüber er all die Jahre geschwiegen hatte. Die Kamera schwenkte über Leichenberge und Skeletthaufen, über ordentliche Stapel von Armbanduhren, Zahnprothesen, Brillen. Große Duschräume wurden gezeigt, und der Sprecher gebrauchte das Wort »vergasen«.
    Inge spürte, wie sich ihr Magen hob. »Ich muss hier raus«, stieß sie hervor, dann drängte sie sich an Sanmao vorbei zur Tür.
    Draußen vor dem Kino rang sie nach Luft. Nurlangsam trat das vertraute Getümmel und Lärmen der chinesischen Umgebung wieder in ihr Bewusstsein, und Inge war zutiefst dankbar dafür. Schlagartig wurde ihr klar, was sie dieser Stadt, die sie aufgenommen hatte, verdankte. Inzwischen war auch Sanmao herausgekommen und legte ihr den Arm um die Schultern. Das war nicht die romantische Geste, nach der sie sich eben noch gesehnt hatte. Es war ein Ausdruck von Mitgefühl, Fürsorge und Trost, der ihr unendlich wohltat.
    »Sanmao   … mein Vater«, stammelte Inge. »Stell dir doch bloß vor, wie knapp wir davongekommen sind. Er hätte einer von denen sein können.« Kaum hatte sie den Gedanken ausgesprochen, als ein heftiger Weinkrampf sie schüttelte. Sanmao zog sie an sich. Inge heulte jetzt hemmungslos. »Ich hab das nicht gewusst«, stieß sie immer wieder hervor, »ich hab das nicht gewusst.« Die Leute auf dem Kinovorplatz drehten sich nach ihnen um.
    »Komm mit, Inge. Meine Mutter kocht dir einen Tee.« Sanmao brachte sie langsam zum Nebenhaus und durch die Toreinfahrt in den Hof der Fiedlers, in ihr chinesisches

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