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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Theke lehnten, sahen aus, als würden sie sich persönlich ins Zeug legen, um eine Zechprellerei zu verhindern.
    Nachdem er eine allerletzte Bestellung aufgegeben hatte, trat eine Frau in das Lokal, legte ihren zotteligen Mantel auf einem Stuhl ab und setzte sich an Vavras Seite. Frau Liepold trug ein Kostüm, das eng und schwarz und ausgeschnitten ihren Körper hart und kompakt erscheinen ließ. Sie hielt sich eine Zigarette an den Mund und wartete. Vavra zierte sich, gab ihr dann umständlich Feuer, so als unterschreibe er einen für ihn ungünstigen Vertrag.
    »Ich komme jeden Tag hierher«, betonte sie. Und wie zur Bestätigung servierte ihr der Wirt ungefragt ein Glas Schottischen, das sie in einem Zug bewältigte.
    Sie sah die Zeitung, wollte wissen, was er von der Sache halte, warum er sich, Wochen danach, dafür interessiere.
    »Nur so. – Menschen sterben eben. Manche auf eine grausamere Weise als andere.«
    »Ich mag mir nicht vorstellen, wie das ist.«
    »Das Verhungern?«
    »Die Dunkelheit.«
    »Man kann nichts sehen.«
    »Sie sind zynisch«, sagte sie und gab eine nächste Bestellung auf, in dem sie dem Wirt zwei ihrer schwarz lackierten Nägel zeigte. Vavra log, er hätte seine Geldbörse vergessen.
    »Ich habe für Sie gestrippt, also muß ich auch Ihre Rechnung bezahlen.«
    Er begriff die Logik nicht. Aber was kümmerten ihn die kranken Schlüsse dieser Frau. Zudem war er betrunken. Nicht zum ersten Mal, aber diesmal empfand er es als etwas Endgültiges, als würde er nie wieder nüchtern werden.
    Liepold redete wie aufgezogen, hauptsächlich von ihrer Mutter, die eigentlich nur noch atmen könne, indem sie stöhne und seufze und referiere, und der nichts leichter falle, als grundlos zu heulen. An manchen Tagen sei sie eine Kettenheulerin, an anderen nur noch belehrend. Solange Tante Mikl am Leben gewesen sei, habe ihre Mutter über ein ideales Opfer verfügt, eine gelähmte, alte Frau, die kaum noch hatte reden können, der aber das beste aller Hörgeräte besorgt worden war, um sich nicht entziehen zu können, wenn die Schwester ihr die Welt erklärte und den Marsch blies. Aber die Tante hätte es hinter sich. Der Krebs in ihrer Lunge habe ihr zur Flucht verholfen. Und nun sei eben sie, die Tochter, an der Reihe, sich all die Reden der Mutter, dieser Volksanwältin in eigener Sache, anzuhören.
    Als sie die Kneipe verließen, bot Vavra ihr an, sich bei ihm einzuhängen. Was er im selben Moment bereute. Er war wohl verrückt geworden, sich dieses Weib aufzuhalsen, auch bloß ihren Arm. Aber die Einsicht kam zu spät, Ingrid war bereits unter seiner Achsel eingezogen. Sie sah ihn kurz von der Seite an, als wollte sie seine dunkelste und aufregendste Seite erraten. Gemeinsam wankten sie auf das Haus zu, in dem nur noch dort das Licht brannte, wo einst Vavra gelebt hatte und nun jener bestimmte Herr residierte, der eine undurchsichtige Verbindung zwischen einem Kompliment und Dünger vertrat.
    Als sie das zweite Stockwerk erreichten, bemerkten sie, daß die Tür zu ebendieser Wohnung einen Spaltbreit offenstand. Kein Grund, sich aufzuregen. Doch da Vavra und Liepold nun einen Schrei vernahmen, der wie ein abgeschnittenes Band endete und aus Holts Wohnung gekommen war, blieben sie im Gang stehen, starr, um eine stumme Atmung bemüht, die Ohren zugespitzt, und warteten.
    Gerade als das Ganglicht erlosch, folgte ein weiterer Schrei, kürzer als der erste, ebenso jäh unterbrochen. Das konnte alles mögliche bedeuten. Heutzutage wurde viel zuviel geschrien, am Theater wie im Straßenverkehr, in der politischen Debatte oder bei Gericht, während etwa in den Schulen und beim Militär – also dort, wo das Schreien eine große Tradition besaß und wirklich mit Sinn und Herz erfüllt werden konnte – so gut wie gar nicht mehr oder nur mehr sehr eingeschränkt geschrien wurde. Und seitdem sadomasochistische Praktiken zum Allgemeingut, zum mittelständischen Standard gehörten, war alles möglich. Daß jemand schrie, schlichtweg eines ungewollten Schmerzes wegen, war jedoch weiterhin nicht auszuschließen, ein Umstand, der Vavra dank jüngster Erfahrungen nicht fremd war. Ingrid Liepold krallte sich an seinem Arm fest. Zusammen näherten sie sich der Tür, sahen durch den Spalt in das Vorzimmer, erkannten nicht mehr als ein Stück tadellos weißer Wand. Doch vernahmen sie nun Stimmen, dann zwei, drei dumpfe Töne, in die weitere Schreie einrasteten wie in Zahnräder.
    »Aber Herr Vavra!«
    Gleichzeitig mit der

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