Tortengraeber
Aktion abgeblasen. Was natürlich auf eine ganz bestimmte Art von Verbrechern und auf eine ganz bestimmte Herkunft dieser Leute hinwies: ein Kind verhungern zu lassen. Weitere Fotos des Opfers waren abgebildet, Geige spielend, einen Bernhardiner umarmend, auch eine Abbildung der Mutter, hinter einer Sonnenbrille, und eine des Sicherheitsdirektors, dem man vorhielt, sich zwar erschüttert zu zeigen, aber nichts im Griff zu haben.
Daß das Kind tot war, mochte tragisch sein, aber schließlich, so sagte sich Vavra, trage er daran ja keine Schuld. Diese Überzeugung wurde freilich erschüttert, als er auf einen Satz stieß, aus dem sich ein Wort gleich einem Gewinde herausdrehte. Dasselbe Gewinde bohrte sich Vavra schmerzhaft ins Bewußtsein: Taubenhofgasse.
Und wie zum Ausgleich der einziehenden Erkenntnis brach die Zigarette aus seinem Gesicht. Trotz der vergangenen Leiden war noch genug Farbe in diesem Gesicht, die nun auch noch entweichen konnte. Taubenhofgasse, das war seine Idee gewesen. Bloß, um irgend etwas zu sagen, um diesen Anwalt zu füttern. Und doch mußte er jetzt feststellen, daß das Haus, in dem die Leiche entdeckt worden war, sich ausgerechnet in dieser von ihm genannten Gasse befand.
»Was geht da vor?« sagte er laut, hielt die Zeitung in die Höhe, so daß die beiden Frauen die großformatige Abbildung des Mädchens sehen konnten.
Liepold war erstaunt. Sollte Vavra dieser Kriminalfall, der tagelang als undurchsichtig-schaurige Tragödie die Medien beschäftigt hatte, entgangen sein? Nun, was sollte man dazu sagen, die Sache war zwar nicht aufgeklärt worden, aber längst gegessen. Ihrer Mutter jedoch traten Tränen in die Augen, und ihre kleinen Hände waren in Brusthöhe zu Fäusten geballt. Sie war gerne bereit, Vavra zu erklären, was da vorging: die Unfähigkeit einer sozialdemokratisch verhunzten Polizei, die es nicht verstand, dem Terror aus dem Osten Einhalt zu gebieten, andererseits die Blauäugigkeit deutscher Geldaristokratie, die aus ihren hochgesicherten Hamburger Villen ins vermeintlich friedliche Österreich zöge, um einmal außerhalb von Tresoren zu leben und sich unter die Leute zu mischen – Baronessen in Supermärkten, der Bundestag beim Kirtag, die zukünftigen Milliardenerben in öffentlichen Schwimmbädern. Und das käme dabei heraus. Sie schluchzte laut auf. Ob wegen des toten Kindes oder der Dummheit des deutschen Großkapitals, war nicht klar. Liepold sah ihre Mutter abschätzig an.
»Übertreib nicht, Mama.«
»Wie meinst du das?«
»Dein Gewinsel. Hör doch bitte auf zu leiden. Wer soll dir das glauben?«
»Herzlos. Das warst du von Anfang an. Kalt. Schon als Kind kalt. Und bist als Erwachsene eisig geworden.« Und an Vavra gewandt: »Sie hat Vögel erschlagen.«
»Unsere Katze hat sie gefangen, sie halbtot liegen lassen und dann angestiert. Unsere Katze war wie du, Mama. Ich mußte die Vögel erschlagen.«
»Ach ja. Das gute Kind. Tötet aus Mitleid. Da habe ich aber Glück. Weil, der Tag kommt sicher nicht, wo die mit mir Mitleid haben wird.«
Vavra erhob sich und ging in den Vorraum, wo die Telefonbücher lagen. Als erstes wollte er sich diesen Anwalt vornehmen – gut, er war nun wirklich nicht der Typ, der sich jemanden vornahm, aber er war auch nicht der einzige schmächtige, konfliktscheue Träger grauer Anzüge, den das Schicksal aus einem sauberen Angestelltenverhältnis herausgerissen und in eine strapaziöse Verwicklung hineingestoßen hatte. So etwas kam tagtäglich vor, daß Privatangestellte in Kriminalgeschichten involviert wurden, die sie nichts angingen, von denen sie auch viel lieber die Finger gelassen hätten. Aber die Unschuld macht einen noch lange nicht unschuldig. Angestellte parken ihre Autos, wählen Telefonnummern, stehen auf Gängen herum, arglos, grundanständig, und dennoch lösen sie mit einem einzigen, scheinbar bedeutungslosen Griff, einem als harmlos empfundenen Computerbefehl, mittels einem in naivem Vertrauen weitergegebenen Dokument, einer krakeligen Unterschrift oder vielleicht auch nur durch den Besuch der Kantine Katastrophen aus, die sie lange nicht begreifen.
Unter »Grisebach« war bloß ein Ehepaar eingetragen. Vavra wählte die Nummer und erfuhr von einer Dame, daß sie mit Sicherheit die einzige Grisebach in Wien sei. Ihr Mann, von dem sie hoffentlich bald geschieden werde, lebe jetzt wieder in Holland. Gebe der Herr, daß er dort verrecke. Als was er nun arbeite, könne sie nicht sagen, aber mit Sicherheit nicht
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