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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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als Anwalt, er habe sich der Rockmusik verschrieben, ein siebenundfünfzigjähriger Rockmusiker, sie könnte Geschichten erzählen … Vavra dankte.
    Er beschloß, nach draußen zu gehen. Als er die Wohnung verließ, blieb er vor der Tür stehen, die einst die seine gewesen war. Es ging auf halb elf zu. Niemals hätte er früher gewagt, um diese Zeit jemanden aus einer Wohnung zu läuten, jetzt aber trommelte er gegen die Tür, energisch, selbstbewußt im Rahmen seiner Niedergeschlagenheit.
    Der Mann, der die Tür öffnete, trug einen oberhalb der Knie endenden, kümmelfarbenen Bademantel. Ein Barttorso zierte sein Kinn. Ein selbstgefälliger Bursche, Augen wie ein einziger Schnitt, die durch die randlose Brille Vavra betrachteten, als wäre sein Gesicht das Haar in der Suppe.
    »Magister Holt?«
    Statt einer Antwort griff der andere in die Tasche seines Mantels, zog eine Visitenkarte heraus, die er Vavra in die Hand drückte, und wollte die Tür schließen.
    »Moment, mein Name ist Vavra.«
    »Na und«, gab der andere endlich seine Stimme frei.
    »Das ist meine Wohnung«, sagte Vavra und zeigte in das Vorzimmer, weiß, sauber und hell im Licht der Halogenlampen, wie sein Vorzimmer nie gewesen war.
    »Wohl kaum.«
    »Mich würde interessieren, wie Sie zu dieser Wohnung gekommen sind.«
    »Und mich interessiert nicht einmal, warum Sie das wissen wollen«, erklärte der andere, lächelte sonnig und schloß die Tür.
    Vavra sagte sich – wie man das in dieser Stadt gerne tat –, daß der Kerl auch noch einmal in seine, Vavras, Gasse kommen werde. Bloß – wo lag seine Gasse?
    Er besah sich die Visitenkarte. In der Mitte des blendendweißen Kartons befand sich eine kreisrunde Wölbung, wie ein Druckknopf oder der Hügel auf einem plastischen Atlas. In jeder Ecke der Karte stand in winzigen Lettern ein Wort: Magister – Kompliment – Holt – Dünger. Ein Kreativer, dachte sich Vavra, oder ein Steuerberater mit dem Hang zu avantgardistisch geprägten Plattheiten.
    Vavra steckte die Visitenkarte in die Manteltasche, stieg den Gang hinunter und trat hinaus in die Kälte. Er sah hinüber zu der Stelle, an welcher der Hubschrauber gelandet war und die jetzt in einem Dunkel lag, aus dem einzig der winzige Punkt einer Glut herausstach. Vavra marschierte Richtung Gürtel. Der eisige Wind hobelte über sein Gesicht. Er flüchtete in die Wärme eines Lokals, das im Stil eines Pubs eingerichtet war. Junges Publikum an den Tischen. Schreibtischhände mündeten in Biergläser oder hielten sich an Zigaretten fest, die wie die Schiffe einer Sternenflotte im Raum standen.
    Vavra stellte sich zu den älteren Semestern an die Bar. Hier wurde nicht, wie im vorderen Teil, Dart gespielt, sondern Whisky getrunken. Er schloß sich an. Erst als ein Zeitungsverkäufer das Lokal betrat und Vavra ihn zu sich winkte, fiel ihm ein, daß er noch immer kein Geld besaß, also auch nicht das teure gälische Wasser, das bereits vor ihm stand, bezahlen konnte. Er wehrte den angelockten Kolporteur ab, bestellte eine Schachtel Zigaretten und ein Glas Bier und verschob das Problem der Bezahlung auf jenen Zeitpunkt, da es akut sein würde. Eine solche Unverfrorenheit war Vavra vollkommen neu. Ein euphorisches Gefühl vermischte sich mit dem Geschmack der ersten Zigarette.
    Nach mehreren Getränken erinnerte er sich, die alte Zeitung aus Liepolds Wohnung in die Manteltasche gesteckt zu haben, zog sie heraus, betrachtete nochmals das Titelbild. Im Blattinneren dann ein Blick in die Hölle , das Verlies, ein schwarzes Loch, davor der Rücken eines Uniformierten. Keiner kann sich ihre Angst, ihre schrecklichen Qualen vorstellen , notierte der Berichterstatter, um auch gleich diese Angst, diese Qualen eindringlich und wortgewaltig zu beschreiben. Der Leser konnte meinen, der Mann sei dabeigewesen, als das Kind sich die Hände an der Wand blutig schlug, in die ewige Nacht hineinschrie, an seinen Socken kaute, endlich begann, Gebete zu sprechen, Gott um Verzeihung bat für die Sünden der Menschen, schließlich in den Tod ging, gelöst . Ach so, gelöst also.
    In der Folge wurden die Verhältnisse dokumentiert, in denen das Kind aufgewachsen war, Villen- und Privatschulschicksal am Bodensee, Nachmittage auf dem eigenen Gestüt, Geigenspiel mit bekannten Virtuosen. Jetzt klang doch ein wenig durch, was Volkes Köpfe, sozusagen grabowsche Köpfe, sich dachten: So ein totes Kind ist natürlich eine schreckliche Sache. Andererseits: Was haben die Deutschen in

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