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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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verlegen grüßte, ihr einen Schrecken einjagte. Aber das war wohl einfach der Anblick eines Mannes auf nüchternen Magen, sagte sie sich und konzentrierte sich weiter auf das Telefonat, das sie gerade führte.
    Vavra trat in den Vorraum, betrachtete sich im Spiegel. Theo Lingen? Ganz unrecht hatte die Alte nicht. Bloß sah er lange nicht so gesund aus. Er griff ohne Skrupel in den Mantel Liepolds und zog ihre Geldbörse heraus. Darin befanden sich sieben Hunderterscheine, die er nahm und in seiner Hosentasche verstaute. Er würde nicht mehr hierher zurückkommen. Das war natürlich kein Argument für einen Diebstahl, zumindest keines, das einem Straffreiheit garantierte. Er war erstaunt, wie leicht es ihm dennoch fiel. War es genauso leicht, ein fünfzehnjähriges Mädchen verhungern zu lassen?
    Wie Unzählige vor ihm, die sich plötzlich ihrer Unschuld nicht mehr sicher waren und denen die Mittel der Verdrängung keine Ausflucht boten, würde er also darangehen müssen, der Wahrheit auf die Schliche zu kommen, der ganzen Wahrheit, was bedeutete: dem Dreck, der an der Wurzel klebte.

3|  Cernys Fieber
    Das Hauptquartier der Sondereinsatzleiterin war in einem der neuen Bürohäuser untergebracht, die man wie Gefechtsstationen der Weltwirtschaft in die Wiener Erde gerammt hatte. Wenn es nach Lilli Steinbeck gegangen wäre, so wäre sie lieber in einem muffigen Amtsraum gesessen, wo der Geruch von Generationen die Luft patinierte. Zwar entsprach ihre eigene Wohnung allerneuesten Maßstäben sachlich-frostiger Wohnkultur – was bedeutete, daß die einzige optische Wärme aus dem fingerdicken Breitwandfernseher kam –, doch in ihrer Arbeit erlag sie gerne dem Reiz des Rückständigen, war wenig begeistert von all den kriminaltechnischen Innovationen, mit denen die Polizei den hochmotivierten, in der Regel gesunden kriminellen Körpern hinterherjagte, welche den Startvorteil besaßen, die Art der ungesetzlichen Handlung weitgehend selbst zu bestimmen. Entweder war die Struktur eines Verbrechens zu kompliziert, der wirkliche Täter als solcher juridisch unglaubwürdig oder das Delikt im Gespinst des Alltäglichen und einer Beinahekriminalität viel zu verschwommen, als daß ein noch so großer Aufwand an technischen Spielereien und ein noch so großer Einschnitt in die Bürgerrechte etwas genutzt hätten. Zudem hinkte die Polizei dem technischen Fortschritt ohnehin ständig hinterher. Die Ausrüstung der Kriminellen war in der Regel erstklassig. Ein Unterschied wie zwischen Schreibmaschine und Computer. Vielleicht auch, da die Kontakte der Unterwelt zu Industrie und Forschung die allerbesten waren. Schließlich versprach die Erprobung von Neuheiten auf dem sozusagen freien Feld der Verbrechensausübung aussagekräftige Resultate, stand doch der Konsument – nicht aus Überzeugung, sondern aus Notwendigkeit – dem Verbrechen näher als der Polizei.
    Steinbeck saß in ihrem Bürosessel und sah hinüber zur Donau, die im Schneesturm kaum auszumachen war. Ob die Brücken noch standen, war nicht festzustellen. Über Floridsdorf war ein orangefarbener Punkt zu sehen, der sich vehement behauptete. Aus dem Nebenzimmer drangen die Stimmen ihrer Kollegen, die mit den Sekretärinnen einer benachbarten Versicherungsgesellschaft irgend jemandes Geburtstag feierten. Offiziell führte Steinbeck eine Agentur zur Vermittlung von Leibwächtern und seriöser Damenbegleitung. Es fiel den kräftig gebauten Herren ihrer Abteilung nicht schwer, glaubwürdig zu wirken. Daß die Truppe in einem Bürohaus stationiert war, hatte weniger mit Tarnung und Frankfurter Allüren zu tun als mit der Platznot der Wiener Kriminalpolizei, deren inoffizielle Abteilungen in den angestammten Räumlichkeiten nicht mehr unterzubringen waren.
    Die Tür, die zum Gang führte, öffnete sich, und herein trat ein Mann mit dem leicht verwahrlosten Aussehen des ewig Unangepaßten. Das graue Haar hing ihm dünnflüssig über die Schultern. Eine Narbe quer über der Stirn. Ein eher kleiner Mensch, aber massiv. Seine Bewegungen langsam, aber bestimmt. Er war nicht der Typ, der jemandem nachlief, sondern sich ihm frühzeitig in den Weg stellte. Und es war nicht leicht, an ihm vorbeizukommen. Dank kaum sichtbarer Bewegungen wuchs er in die Breite. Seiner Größe wegen unterschätzten ihn die meisten Leute, weshalb sie an ihm aufliefen wie auf ein Riff, das sie hier nicht vermutet hätten.
    Die stark geröteten Augen wurden abgedeckt von getönten Gläsern. Daß dieser

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