Tortengraeber
Mann keinen Schluck trank, war schwer vorstellbar, dennoch ein Faktum. Auch nahm er sonst keine Drogen zu sich. Der Mann hatte ein ganz anderes Problem. Ihn begleitete ein ständiges Fiebergefühl. Womit er zu leben gelernt hatte, wie man lernt, daß sich immer wieder Staub auf die Dinge legt. Was ihn aber interessierte, war die Frage, ob dieser hyperthermische Eindruck der Wirklichkeit entsprach. Denn nur selten tat er das. In jedem Fall wollte er den Überblick behalten, über sein eingebildetes wie sein tatsächliches Fieber. Darin bestand sein Zwang: im Fiebermessen. Weshalb er ganze Bücherregale voll von Notizbüchern besaß, die nichts anderes speicherten als Datumsangaben, Uhrzeiten und Körpertemperaturen. An eine statistische Auswertung dachte er nicht. Was wäre schon dabei herausgekommen: daß er trotz kontinuierlichen Fiebergefühls durchschnittlich auf 36,7 Grad köchelte, von einer echten Fieberleistung also wirklich nicht die Rede sein konnte? Nein, er meinte, indem er notiere, schaffe er Ordnung. Das genügte. Ohnedies verzichtete er darauf, sich zu rechtfertigen. Er maß seine Temperatur, so wie andere rauchten oder Nägel bissen oder Haare drehten, sich an ihren Bäuchen oder an diesen kleinen, tragbaren Telefonapparaten festhielten. Auch er besaß ein Gerät, das er ständig mitführte, einen beigefarbenen Kunststoffkörper mit Digitalanzeige, den man sich wie eine Pistole ins Ohr hielt und dadurch bereits nach Sekunden über die körpereigene Temperatur Bescheid wußte. Ein Instrument, das die Ausübung seiner Manie um einiges leichter gestaltete. War er doch früher gezwungen gewesen, ein traditionelles Thermometer unter die Achsel zu klemmen und zehn Minuten in ruhiger Stellung auszuharren, was angesichts eines Berufsalltags von Beschattung bis Festnahme sich manchmal umständlich gestaltet hatte. Und weil er sich auch vor Vorgesetzten nicht zurücknahm, führte seine Marotte zu Verwarnungen, die Ewald Cerny hinnahm, wie man den hundertsten geschenkten Kugelschreiber hinnimmt.
Auch als er sich jetzt in dem angebotenen Stuhl niederließ, zückte er sein Gerät, führte sich den Lauf in sein rechtes Ohr ein, drückte die Taste, und nachdem ein Signalton erfolgt war, konnte er immerhin feststellen, daß sein Empfinden ihn nicht ganz täuschte. 37,28 Grad war zwar noch nicht die Welt, aber doch erhöhte Temperatur. Gleichzeitig befriedigt ob der richtigen Einschätzung und betroffen angesichts des Beweises seiner Erkrankung, steckte er den Thermomaten zurück in die Tasche einer Natojacke, wie Natogegner sie so gerne tragen.
Cerny gehörte nicht zu Steinbecks Einheit, er gehörte zu gar keiner Einheit, war ein fliegender Mitarbeiter, kam zum Einsatz, wenn es besser schien, jemanden allein, abseits eingespielter Kollektive arbeiten zu lassen. Sein Glück. Dabei war er keineswegs ein Dirty Harry, keiner dieser hartgesottenen Einzelkämpfer, die stets am Rande des Gesetzes und leichthändig wie in einem Videospiel wüteten. Cerny war gerne alleine, hatte verständlicherweise wenig Lust, sich die höhnischen Bemerkungen seiner Kollegen anzuhören, wenn er wieder einmal eine Messung vollzog. Die anderen hielten ihn für einen Irren, sprachen vom Fiebergesicht , vom Thermomaniac , vom Mann jenseits der Siebenunddreißig . Daß er zumeist fieberfrei war, blieb sein Geheimnis, das er genaugenommen vor sich selbst geheimhielt. Einige vermuteten, daß er unter einer Art Nervenfieber litt, in dessen Folge Teile seines Verstandes in die Knie gegangen waren. Was so nicht stimmte. Allerdings beschäftigte sich Cerny leidenschaftlich mit aller neurologischen Unbill, die zu fiebrigen Zuständen führte. Sein Lieblingsmaler war Carl Spitzweg, den er auch als Künstler schätzte, aber in erster Linie deswegen verehrte, weil dieser in seiner Biographie ein Nervenfieber vorweisen konnte, was Cerny in einen direkten Bezug zur Spitzwegschen Kunst setzte, deren Figuren, so der Polizist als privater Fieberforscher, »weniger komisch denn in jeder Hinsicht chronisch sind«. Cerny war überzeugt, daß es das Fieber sei, das die Nasen der forschenden Geister, der Bürokraten, der Obsessionisten, der Boten in eigener und fremder Sache erglühen läßt und welches zu den beschlagenen Brillengläsern von Sonntagsjägern und Sammlern führt. Und erklärte, daß Spitzweg nie geheilt gewesen war, daß das Fieber den Maler nicht wieder verlassen hatte und daß wahre Kunst ohne Fieber ohnedies schwer denkbar sei – so romantisch
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