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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Fall ziehen. Jetzt, da die große Madame wieder im Lande ist. Und ihre beiden Söhne.«
    »Verkleidung?«
    »Bleiben Sie, wie Sie sind. Spielen Sie den ungewaschenen Klotz.«
    Nun, er war ein ungewaschener Klotz. Steinbeck überreichte Cerny eine Mappe, dick wie Ein weites Feld . Cerny schien entsetzt. Sie beruhigte ihn jedoch, indem sie erklärte, die wesentlichen Stellen angezeichnet zu haben. Cerny schlug das Konvolut auf. Zuoberst lagen die Fotografien, die das tote Mädchen in seinem Verlies zeigten. Ein zusammengekrümmter, in die Ecke gepreßter Körper, der aussah, als sei er aus dem Mauerwerk herausgewachsen. Der schräg gestellte Kopf, Schultern, Knie und die Ellbogen der angewinkelten Arme vermittelten einen freigelegten Eindruck. Der ganze Körper besaß dieses Bis-auf-die-Knochen.
    Cerny zog das Gesicht zusammen. »Sieht nach Biafra aus.«
    »Magersüchtig«, sagte Lilli Steinbeck, die es ja wissen mußte.
    »Wie?«
    »Das Mädchen war krank, wirklich krank. Nicht bloß dünn, wie Fünfzehnjährige eben dünn sind. Berücksichtigen Sie das, Cerny. Das wurde nämlich bisher unterlassen. Ich denke, wer auch immer Sarah in dieses ungeheizte Loch befördert hat, wußte, daß sie das nicht überstehen würde. Auch nicht bei täglicher warmer Mahlzeit, die sie sowieso nicht angerührt hätte. Unter uns – das Mädchen war bereits so gut wie tot, als man sie dort eingeschlossen hat, wenn nicht schon zuvor. Aber der Chef will davon nichts wissen. Er besteht darauf, mit der Entführung habe das nichts zu tun. Könnte ein schlechtes Bild auf die Hafners werfen. Und das wollen wir, Gott behüte, vermeiden.«
    Steinbeck erklärte, daß sich die beiden sogenannten medizinischen Experten in der Frage uneinig zeigten, wie lange das Kind wohl in seinem Gefängnis gelegen hatte, bevor es verhungert war. Als unzertrennlich erwiesen sich die beiden jedoch in dem Punkt, daß von Anorexie nicht die Rede sein könne. Dünn sei das Mädel halt gewesen, dünn, aber durchaus gesund, hatten die zwei Herren unisono erklärt und dabei ausgesehen, als stünden sie auf einer Bühne und spielten die Hausärzte der Kaiserfamilie.
    Cerny zeigte sich verwundert, daß Sarah Hafner auf den Zeitungsfotos keineswegs den Eindruck mache, sie sei gerade am Verhungern.
    »Die sind vor eineinhalb Jahren aufgenommen worden. Bevor Sarah wohl begonnen hat, die Hand über ihren Teller und ihr Leben zu legen. Die Frau Mama hat behauptet, es gebe aus der letzten Zeit keine Bilder.«
    Und das nahm ihr Lilli Steinbeck auch ab. Denn es sei nur zu verständlich, daß Frau Hafner den für sie beschämenden Verfall der eigenen Tochter nicht dokumentiert wissen wollte. Die Clanchefin sei so eine Art schlankes Schlachtschiff. Der moderne Ariertyp, mehr französisch als deutsch, aufgeklärt und antiliberal, keine von den blöden Kühen, die zwischen Gatten und Flüchtlingskindern grinsen. Eine Frau, die es verstehe, das Maul aufzureißen. Ein gewaltiges, ein bedeutendes Maul, das auch geschlossen seine Wirkung nicht verfehle.
    »Okay, ich mag sie nicht«, sagte Steinbeck. »Vielleicht, weil sie zum Erbrechen gesund aussieht. Vielleicht, weil sie etwas mit dem Tod ihrer Tochter zu schaffen hat.«
    Steinbeck griff sich mit dem Finger an die Stirn, als wäre ihr gerade eingefallen, daß die Milch auf dem Herd steht. »Vergessen Sie das letzte.«
    »Schon geschehen«, sagte Cerny, der nie etwas vergaß, auch nicht das Feststellen seiner Körperwärme, weshalb er mit souveränem Griff das Gerät aus der Tasche zog, um sich – zumindest in einem Punkt – in die Sicherheit exakten Wissens zu begeben.
    Cernys Kontakte zur Unterwelt konnte man als vernünftig qualifizieren. Auch in diesem Milieu galt er als zuverlässig. Nie setzte er jemanden unter Druck, verzichtete darauf, den wilden Polizisten zu mimen, wußte sich zu benehmen. Wollte er eine Information, so zahlte er einen angemessenen Preis. Ließ er sich bestechen, so nur von Personen, die ansonsten beleidigt gewesen wären. Hätte es mehr Beamte wie Cerny gegeben, wären die Berufskriminellen nicht gezwungen gewesen, ihrerseits Druck auf die Polizei und politisch Verantwortlichen auszuüben oder durch unmäßige Geld- und Sachspenden Abhängigkeiten herzustellen. Cerny erkannte die Existenz einer kriminellen Sphäre als jenen Unterbau an, ohne den die bürgerliche Gesellschaft in sich zusammengefallen wäre. Der Anteil an tatsächlichen Verbrechern, jenen also, die kriminelle Handlungen außerhalb einer

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