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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Büro. Daß es unverschlossen war, war eine Nachlässigkeit, die Cerny nicht bedauerte und Wiese nicht mehr zu bedauern brauchte. Das Zimmer war kleiner als der Warteraum und nicht ganz so weiß. Der Analytiker hatte dem Ambiente einen Hauch von Gemütlichkeit verordnet. Die erwartete Couch fehlte. Statt dessen standen zwei bequeme Fauteuils vor einer zum Balkon führenden Fensterwand. Draußen ein kleiner Park, in dem Schnee lag, unbefleckt, als stehe er hier unter Naturschutz. Im Bücherregal stauten sich weder die großen Traumdeuter noch die Jahrbücher irgendeiner psychoanalytischen Gesellschaft, sondern jede Menge Engländer und Russen, in erster Linie Shakespeare und Dostojewski, die ja zum Verständnis der menschlichen Seele auch ihren Beitrag geleistet haben. Zwischen Zamjatins Wir und Huxleys Brave New World zog Cerny einen Band heraus, da ihm der Name Wiese ins Auge gestochen war.
    Das Buch lag schwer und glatt in der Hand, fühlte sich teuer an. Der Autor Wiese blieb diesmal ohne bürgerlichen und aristokratischen Titel, begnügte sich mit seinem Vornamen, trat hinter dem Werk zurück. Der vordere Teil des Umschlags wurde ausgefüllt vom Bildausschnitt eines Gemäldes, das zwei Männer in Oberschenkelhosen zeigt, die am Seeufer knieen und sich übergeben, im Hintergrund steigen Enten auf. Holland, 16. Jahrhundert. In hellroten Lettern der Buchtitel Die Historie der Eßstörungen . Cerny schlug es auf. Auf der Umschlagklappe ein Foto Joachim Wieses, auf dem er um einiges schlanker wirkte, der Mediziner, Analytiker, gelernte Kunsthistoriker und – um bei alldem das Allzumenschlich-Unakademische nicht zu vergessen – Sammler englischer Sportwagen. Ein Rezensent befand das Buch als geistreich, humorvoll, populär im besten Sinne , ein anderer sprach von überraschenden Einblicken . Der Band war mit Abbildungen gut bestückt, von Brueghel bis Botero. Die Geschichte der Eßstörungen als Weihnachtsgeschenk. Cerny stellte das Buch zurück. Er wollte fair sein, keine echten Spuren verwischen, und das war ja wohl eine Spur, wenn man eine Verbindung zu Sarah Hafners möglicher Anorexie in Betracht zog. Zudem war der Prachtband schlichtweg zu dick, um damit durch die Gegend zu rennen. Er würde sich später eine Ausgabe besorgen.
    Auf dem Schreibtisch, der die Form der rechten Seite eines halbierten Q besaß, hatte sich Wiese jene kleine Unordnung aus Papierstößen, aufgeschlagenen Büchern und angekauten Stiften erlaubt, die einem wissenschaftlich denkenden Menschen zukommt. Aber auch hier kein Familienfoto, nicht einmal das eines englischen Sportwagens. Weder die Abbildung irgendeines Gründervaters an der Wand noch Diplome, die in manchen Praxen wie Verlautbarungen zur Geldeintreibung hingen. Die Papiere auf dem Tisch stellten Manuskripte dar, Entwürfe für weniger populäre Fachpublikationen, soweit Cerny verstand, und er verstand nicht viel. Auch in den Schubladen fand er nur Belangloses. Keine Telefonnummern, Patientenkarteien oder Briefe. Wer schrieb heutzutage schon Briefe? Und der Rest steckte im Computer, hinter irgendwelchen Paßwörtern verschanzt. Cerny machte sich gar nicht erst die Mühe, am PC herumzufingern. Doch irgend etwas mußte er mitnehmen, etwas Handlicheres als das Buch, damit die, die nach ihm kamen, wußten, daß sie erneut ins Hintertreffen geraten waren. – Dieser Ärger war es, der die Kriminalisten in Schwung hielt.
    Cerny griff sich eine von den handgroßen, schlangenförmigen Figurinen aus Bronze, dürre, um sich selbst gewundene, kopflose Gestalten, die zu sechst, in gleichmäßigen Abständen, auf einer von der Wand abstehenden Glasplatte aufgereiht standen. Nur wenig erinnerte in eindeutiger Weise an die menschliche Anatomie, eine einzelne Brust, eine gespreizte Hand, eine Wölbung, von der ein Nabel tief ins Innere vorstieß. Cerny hatte eine mittlere Figur ausgewählt, damit die Absenz auch deutlich wurde, und verwahrte sie in einer der vielen Taschen seiner Jacke. Dann verabreichte er sich eine Fiebermessung, notierte den unauffälligen Wert in sein Notizbuch und verließ den Raum.
    Wie es sich gehörte, schloß er die Tür. Was nichts daran änderte, daß sich ihm Frau Resele in den Weg stellte und – großgewachsen, wie sie war – auf ihn hinuntersah. Sie war von der Vorzimmerdame informiert worden und wollte nun wissen, was er dort drinnen getrieben habe. Was bilde sich die Polizei eigentlich ein. Sie glaube nicht, daß der Doktor jedwede Schnüffelei goutiere.
    »Ihr

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