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Tortengraeber

Tortengraeber

Titel: Tortengraeber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Zeitungsrand verkrallt hatten?
    Entsprechend der Funktion eines Zeigefingers war jener der rechten Hand ausgefahren. Das Ganze erinnerte an ein Gemälde, auf dem der Porträtierte mittels Fingerzeig auf seinen Beruf, seine Leidenschaft oder seine göttliche Mission verwies. Dieser Finger nun, der Finger des Toten, deutete auf eine Fotografie in der Zeitung, auf das schwarzweiße Bildnis eines vornehmen, weißhaarigen Mannes, der aus der Aufnahme heraussah, als wäre er noch als Abgebildeter, als tausendfach reproduziertes Foto imstande, den Betrachter in seine seelischen Einzelteile zu zerlegen. Und der den Eindruck vermittelte, als wollte er nicht sterben, der Mann auf dem Foto – und der nun doch gestorben war. Spät, aber innerhalb vernünftiger Grenzen. Gehörte also nicht zu jenen von Frau Liepold vermuteten Zweihundertjährigen. Vielleicht darum, weil einer, der im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand, und damit auch sein Alter, niemals in der Lage war, den Rahmen des Konventionellen zu sprengen.
    Dieser Herr, ein Schriftsteller, Insektenforscher, ein berühmt-berüchtigter Ungelesener, ein soldatischer Tagebuchschreiber und späterer Tagebuchsoldat, ein großer Preisträger und beliebtes Geburtstagskind, überhaupt der deutsche Schriftsteller als Jubilar, ein Mann, den zu verachten zuletzt als kindisch gegolten hatte, da ein ganzes Jahrhundert nun einmal nicht verachtet, sondern bloß analysiert werden könne, dieser Herr also hatte nach hundertzwei Lebensjahren das Jahrhundert um zwei Jahre zu früh abgeschlossen: Ernst Jünger.
    Cerny war enttäuscht. Der Tod des in der Naturbeobachtung zur Ruhe gekommenen ehemaligen Meteorologen metallisch-tödlicher Erscheinungen ließ ihn unbeteiligt. Er hatte sich einen Hinweis erhofft. Gut, Jünger war tot. Und der Mann, der die Zeitung hielt, ebenso. Daraus war bloß die recht bekannte Omnipräsenz des Todes herauszulesen. Den Fingerzeig konnte er vergessen. Weshalb Cerny den üblichen Weg wählte, sich Gummihandschuhe überzog und in die Innenseite des Jacketts griff, um das Portemonnaie des Toten herauszuziehen. Darin befand sich nur wenig Bargeld, aber ein Rattenschwanz von Kreditkarten, die auf einen Joachim Wiese lauteten. Dazu Visitenkarten, die den offensichtlich selben Herrn als Dr. Joachim von Wiese und als Psychoanalytiker auswiesen, dessen Praxis sich in der Saitlinggasse befand. Weiters ein Führerschein. Das war es auch schon.
    War das normal, fragte sich Cerny, eine Geldbörse ohne Familienfotos, ohne wenigstens die Abbildung einer Jugendfreundin, irgendeines Haustiers? War das typisch für einen Psychoanalytiker, waren das derart harte Burschen? Oder hatte nur dieser eine dem Zwang, wenn schon nicht dem zur Kreditkarte, widerstanden?
    Cerny nahm eine der Visitenkarten an sich und steckte die Börse zurück. In den anderen Taschen fand er einen Schlüsselbund, eine Packung Zigaretten, Taschentücher, ein Fachbuch über Atemtechniken, den in Papier eingewickelten Rest eines Croissants, nichts also, was es mit einem Tagebuch des Ermordeten hätte aufnehmen können. Ein solches aber fehlte. Cerny deponierte die Inhalte wieder an ihre Plätze, schenkte dem Toten einen letzten kriminalistischen Blick, wobei ihm die Lackschuhe auffielen, und verließ den Raum.
    Bachoeven wollte ihn aufhalten. Cerny solle warten, Gruppeninspektor Berg würde bald eintreffen und ihn sprechen wollen.
    »Bin gleich zurück«, sagte Cerny, der Berg kannte, welcher leider auch ihn kannte. Berg liebte korrekte Kleidung, verachtete Phobiker und war ein unnachgiebiger Diskutant. Worüber nie diskutiert wurde, war die Frage, unter welche Bezeichnung seine Angewohnheit fiel, zwei- bis dreimal täglich das Hemd zu wechseln und Menschen nach ihren Fingernägeln zu beurteilen.
    Mit Schmutz unter denselbigen verließ Cerny das Haus. Es blieb dabei: Er hatte wenig Zeit. Auch Berg konnte Visitenkarten lesen. Cerny stieg in ein Taxi und ließ sich nach Gersthof bringen.
    Die Praxis in der Saitlinggasse war in einem sachlichen, modernen Bau untergebracht, der zwischen zwei mondänen, aber leicht baufälligen Villen steckte, was ein wenig an George Segal zwischen Elizabeth Taylor und Richard Burton erinnerte.
    Cerny stellte sich so vor dem Eingang auf, daß ihn die Videokamera nicht erfassen konnte, und drückte auf den Knopf, der zur Praxis gehörte. Ansonsten schien das Haus nur Leute zu beherbergen, die keine Namen besaßen. Die freundliche, jugendliche Stimme aus der Gegensprechanlage

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