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Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt

Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt

Titel: Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dario Castagno
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sprachlos. Zwischen den Füßen meines achtzigjährigen Kunden schlängelte sich eine Viper – etwa zwanzig Zentimeter lang, grau mit schwarzen Flecken und dem typisch dreieckigen Kopf. Beim Überqueren der Straße war sie offenbar auf den Fuß meines Kunden gestoßen. Nachdem sie darüber gekrochen war, lag sie nun vor dem zweiten Fuß und breitete sich darauf vor, auch dieses Hindernis zu bewältigen. Glücklicherweise sah mein Kunde nicht besonders gut und konnte nicht genau erkennen, was da über seinen Schuh kriechen wollte.
    »Stillstehen«, befahl ich, als ich meine Sprache wieder gefunden hatte. »Keinen Muskel bewegen!« Und weil ich weder ihn noch die anderen verängstigen wollte, sagte ich, es handle sich um ein seltenes Exemplar des Chianti-Wurms, einer vom Aussterben bedrohten Gattung. Einer alten Sage nach bringe dieser Wurm jedem, der in direktem Kontakt mit ihm komme, Glück. Während ich diese unglaubwürdige Geschichte erzählte, glitt die Viper über den zweiten Fuß und verschwand im Gebüsch. Wäre einem meiner jüngeren Kunden etwas Derartiges geschehen, wäre er gestorben – nicht wegen des Bisses, sondern vor Angst.
    Die Sinneswahrnehmungen dieser Gruppe dagegen waren so beschränkt, dass sie nicht sehen konnten, was da in ihre Mitte gekrochen war. Weil ich leichenblass geworden war und am Schluss erleichtert aufatmete, hatten sie allerdings rasch begriffen, dass etwas sehr Unangenehmes geschehen war. Erst später, als wir anhielten, um etwas zu trinken, erholte ich mich wieder vollständig und erzählte ihnen die Wahrheit.
    Auf der Rückfahrt zu ihrem Bauernhaus schliefen alle tief. Der Passagier neben mir hatte seinen Kopf auf meine Schulter gelegt und schnarchte. Gerne wäre ich rascher gefahren und direkt in die Schlaglöcher hinein, um alle aufzuwecken, aber ich hielt diesen Anflug von Niederträchtigkeit in Schach.
    Als ich mich von ihnen verabschiedete, war ich natürlich sehr erleichtert, zu meinem Erstaunen aber auch recht betrübt. Sie zu begleiten war zwar äußerst mühsam gewesen, und bestimmt hatten sie alles, was ich ihnen erzählt hatte, schon längst vergessen. Aber sie hatten mich beinahe wie einen Sohn behandelt, sich blindlings auf mich verlassen und bereitwillig alles mitgemacht, was ich ihnen vorgeschlagen hatte, vor allem aber hatten sie sich kein einziges Mal beklagt. Mit ihrem Abenteuergeist und ihrer Lebensfreude waren sie in jeder Hinsicht jüngeren, kräftigeren Gästen, die ich durch die wilden Gegenden des Chianti-Gebietes begleitet hatte, ebenbürtig.

Eine Wiege für Genies
     
    Was in unserer Gegend nicht fehlt, ist Geschichte. Zwar kann man stundenlang wandern, ohne einer Menschenseele zu begegnen, aber wo immer man hinkommt, stößt man auf Zeugnisse von einst. Die Etrusker haben überall Spuren hinterlassen. Dieses geheimnisvolle Volk stach irgendwo im Mittelmeer in See, landete um 700 v. Chr. an unserer Küste und beeinflusste die hiesige Lebensweise für immer. Dann kamen die alten Römer. Auch sie zwangen uns ihre Zivilisation auf. Sie bauten Straßen durch den ganzen Chianti, die bis heute erhalten geblieben sind. Es folgten die Barbaren, die von Nordeuropa ausschwärmten und riesige Festungen, Türme und zahlreiche Nachkommen hinterließen. Letztere haben sich mit ihren markanten nordischen Gesichtszügen als besonders überlebenstüchtig erwiesen. Es bedarf nur ein wenig Fantasie, und schon meint man, sie alle vor sich zu haben. Mit geschlossenen Augen höre ich die Schlachtrufe der Truppen von Siena und Florenz. In einem Jahrhunderte dauernden Bürgerkrieg metzelten sich die Truppen dieser beiden Städte immer wieder gegenseitig nieder.
    Besonders stolz sind wir auf das Zeitalter des Rinascimento, der italienischen Renaissance, als deren Wiege die Toskana gilt. Nach Jahrhunderten des Krieges, der Unwissenheit, der Seuchen und des Aberglaubens entstand hier eine Bewegung, die zu tief greifenden philosophischen, wirtschaftlichen und kulturellen Fortschritten führte. Leonardo da Vinci malte während eines Aufenthaltes in einem Bauernhof namens Vignamaggio die Mona Lisa. Die Familie Buonarroti stammte aus dem Chianti-Gebiet, wo Verwandte von Michelangelo Weinbauern gewesen sein sollen.
    Amerigo Vespucci, nach dem der amerikanische Kontinent benannt wurde, war Besitzer eines Gutes in Monte Fioralle. Sein Nachbar Giovanni da Verrazzano besaß ein nach dem Stammvater benanntes Schloss nicht weit von Greve entfernt. Gern male ich mir aus, wie diese beiden

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