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Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt

Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt

Titel: Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dario Castagno
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überall blühende Schlehen, Pfirsich- und Aprikosenbäume. Der Garten ist voller Spatzen und Meisen. Die einen bauen ihre Nester eifrig in die Ritzen der alten Mauern, die andern flicken die, die sie im Herbst verlassen haben. Ostern steht vor der Tür, und der alte Priester zieht mit einer Schar kleiner Buben den Weihwasserkübel schwenkend von Haus zu Haus und spendet den alljährlichen Segen.
    Im März erwache auch ich aus meinem Winterschlaf. Mehr und mehr werde ich von Voranmeldungen überschwemmt und unternehme erste Ausflüge. Meine tägliche Routine heißt jetzt wieder: aufstehen, Kunden abholen, Exkursionen unternehmen. Die Tage füllen sich rasch mit Tönen, Bildern und neuen Gesichtern.
    Es war im Monat März, als ich T.T. kennen lernte.
    T.T. meldete sich das erste Mal im Januar 1993. Als ich eines Nachmittags nach Hause kam, hatte mein Faxgerät ein unglaublich langes Blatt Papier ausgespuckt, auf dem ein angehender Kunde eine scheinbar nicht enden wollende Reihe von Fragen und Wünschen äußerte. Das große Interesse dieses Mannes für den Wein fiel mir sofort auf. Es musste weit mehr als nur ein Hobby sein, wie ich aus der Liste der Weingüter, die er besuchen wollte, schloss.
    Es waren so viele, dass ich ihn länger als einen Monat täglich hätte begleiten müssen, falls er sie tatsächlich alle sehen wollte. Zwischen uns entspann sich eine lange Korrespondenz: Auf jedes Telefax voller Fragen schickte ich ein ebenso langes Antwortfax zurück. Er las es anscheinend sofort und schrieb mir wieder, mit neuen Wünschen und Fragen über Fragen. Jedes Mal, wenn ich ein Hotel oder ein Restaurant empfahl, wollte er mehr darüber wissen. Die ersten Fragen dieser Art waren verständlich. Er wünschte Auskunft über die Lage des Hotels, die angebotenen Dienstleistungen, welche Art von Essen serviert wurde usw. Als ich diese Angaben gemacht hatte, folgten weitere und – wie ich fand – unglaubliche Fragen über die Größe der Hotelzimmer und der Bäder in Quadratmetern, die Zimmerhöhe, ob mit oder ohne Wandtapeten, die Farbe der Wände und anderes mehr. Der Briefwechsel erstreckte sich über Tage und wurde immer merkwürdiger. Nach über zwei Monaten des Verhandelns in einundfünfzig Faxen vereinbarten wir, uns am 19. März in seinem Hotel außerhalb von Siena zu treffen, um die Weinkeller der Gegend zu besuchen und so viel Wein wie möglich zu verkosten. Alle weinbaulich uninteressanten Informationen über die Gegend sollten außer Acht gelassen werden.
    Trotz unserer umfangreichen Korrespondenz hatte ich mir kein Bild von diesem Mann zurechtlegen können. Er hatte nichts über sich verraten, was mir auf die Spur geholfen hätte, und ich war so gespannt darauf, ihn endlich kennen zu lernen, dass ich in der Nacht vor seiner Ankunft von ihm träumte: Der Mann war klein und nervös, sehr distinguiert und anspruchsvoll, schwer zufrieden zu stellen und rasch bereit, sich zu beschweren. Ich träumte auch, dass er laufend Dinge von mir verlangte, mir aber keine Zeit ließ, diese auszuführen, und dass er mir ständig Fragen stellte, auf die es keine Antworten gab. Er genoss es offensichtlich, mich in Verlegenheit zu bringen. Schweißgebadet erwachte ich mit einer ausgedörrten Kehle und trockenen Lippen. Hatte das bevorstehende Treffen mit T.T. mich dermaßen gestresst? Oder war der Albtraum auf die stark gewürzte Pizza zurückzuführen, die ich am Abend mit etwas zu viel Wein hinuntergeschwemmt hatte? Ich stand auf und trank fast einen ganzen Liter Wasser, getreu dem Motto: »Was mit Wein nicht runtergeht, ertrinkt im Wasser.« Es war erst vier Uhr. Bis zu unserer Verabredung waren es noch sechs Stunden. Ich ging wieder ins Bett zurück. Später erwachte ich mit leichten Kopfschmerzen und einem beklommenen Gefühl im Magen. Ich machte mich auf den Weg zu dem Fünf-Sterne-Hotel, wo ich T.T. in seiner Suite abholen sollte.
    Er saß auf der Couch in der Hotelhalle, rauchte eine Zigarette und wartete auf mich. Er war riesengroß. Sein Körper erinnerte mich an einen amerikanischen Football-Spieler – einer, der nach beendeter Karriere ein paar Kilos zugelegt hat. Langes braunes Haar fiel ungekämmt auf seine Schultern. Die Hemdsärmel drohten über seinen riesigen Oberarmmuskeln zu zerreißen, und sein Oberkörper war so mächtig, dass man den Eindruck hatte, er könne sämtlichen Sauerstoff im Raum in einem einzigen Atemzug aufsaugen. Sein Bauch war groß, aber nicht von der schwammigen, über die Gürtelschnalle

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