Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt
aufgenommen zu werden, sondern der ein so unauslöschlicher Teil davon wurde, dass seine engsten Freunde hier von ihm noch heute in der Gegenwartsform sprechen.
Nachdem ich viele Seiten über Leute geschrieben habe, die ich persönlich kennen lernte, ist es für mich nicht leicht, einem Mann, dem ich nie begegnet bin, ein Kapitel zu widmen. Aber ohne ihn wäre ein Buch über die Amerikaner in der Toskana unvollständig. Er war einer der wenigen Ausländer, der in der Erinnerung aller weiterlebt als jemand mit einem tiefen Verständnis für die Bedeutung unserer Stadt und die Senesità, das Sienesentum. Einer seiner Lieblingssprüche war: »Man kommt nicht als Sienese zur Welt, Sienese wird man.« Über diese Behauptung lässt sich natürlich streiten – aber er selbst hat sie bewiesen. Er hat viele Jahre in unserer Stadt gelebt. Er hat ihre wichtigsten Werte kennen gelernt und ist ihnen nachgekommen. Die Menschen hier haben ihn wie einen Sohn willkommen geheißen und aufgenommen. Er kannte unsere Geschichte und kulturellen Errungenschaften fast noch besser als wir selbst. Er deutete und lobte den Geist des Zusammenhalts in den contrade, kurz: Er zeigte uns ein Bild von uns selbst, das wir ohne ihn nie gesehen hätten, und so schaffte er sich einen wichtigen Platz im täglichen Leben von Siena.
Doch wer war eigentlich dieser distinguierte jüdische Gentleman mit dem Kindergesicht und dem birnenförmigen Körper, der immer einen schmucken Schlips trug? Viel über ihn ist nicht bekannt. Er war eher zurückhaltend, wenn es um sein Privatleben ging, und leider war unsere Neugier ihm gegenüber seiner Neugier uns gegenüber nie gewachsen. Wir wissen, dass er ein Literaturprofessor war, der klassische Musik über alles schätzte, dass er in New York City lebte und dass er offenbar die Noble contrada der Raupe als seine eigentliche Familie betrachtete, so sehr, dass er uns nach seinem Tod einen großen Teil seines Vermögens und viele persönliche Gegenstände hinterließ.
Es war an einem schönen Sommerabend. Ich saß bei einem der üblichen Essen im prächtigen Garten unserer contrada an einem der Tische und fragte eine Gruppe von contradaioli, die Roy gut gekannt hatten, ob sie genau wüssten, wie sein Familienname geschrieben werde, weil ich ihn in einem dem Palio gewidmeten Kapitel dieses Buches erwähnen wolle. Ihre Gesichter erhellten sich, als ich seinen Namen nannte, und viele begannen gleichzeitig zu sprechen. So erfuhr ich sehr viel mehr als die genaue Schreibweise von Moskovitz, und es entstand ein ganzes Kapitel nur über Roy – vielleicht sogar ein zentrales, schließlich war er Amerikaner, aus dem wirklich ein Toskaner wurde. Bei jenem Abendessen, in dessen Verlauf das Glas mehrmals auf ihn erhoben wurde, und später, als ich die Zeitungsarchive durchkämmte, erfuhr ich Folgendes über Roy Moskovitz: Wie viele Touristen waren Mitte der Sechzigerjahre nach Siena gekommen, um den Palio mitzuerleben. Als er durch das Oviletor gegangen war und die steile Via del Comune hinaufstieg, sah er vor der Kapelle der Raupe eine große Menschenmenge stehen. Er fragte, was los sei, und erhielt die Antwort, dass das Pferd für das Rennen gesegnet werde. Weshalb die Segnung eines Pferdes eine derart wichtige Rolle in Roys Leben spielte, bleibt ein Geheimnis. Später sagte er nur, er habe in diesem Augenblick gewusst, dass seine »Schicksalsglocke geläutet hatte«. Er trat in die Kapelle ein, einer unter hunderten im übervollen Raum, und war so ergriffen, dass er nach dem Gottesdienst nicht anders konnte, als den Palio von der Piazza aus inmitten der Anhänger der Raupe zu verfolgen. Die Raupe gewann das Rennen an jenem Tag nicht. Aber die contrada gewann etwas Dauerhafteres, nämlich die uneingeschränkte Begeisterung von Roy Moskovitz. Er beschloss, den folgenden Monat ebenfalls in der Stadt zu verbringen, um auch den August-Palio mitzuerleben.
Dieses Mal kaufte er eine Karte für die Tribüne. Schnell eroberte er die Herzen der von ihm erwählten contrada. Dank seiner Begeisterung, Neugier und großen Feinfühligkeit wurde er in kürzester Zeit in die contrada aufgenommen. 1972 wurde er in einer Feier, während der er sichtlich bewegt war, als Mitglied getauft. Die Zuschauer waren von seiner Rührung so beeindruckt, dass niemand zu kichern wagte angesichts dieses erwachsenen Mannes am Taufstein, inmitten einer Schar wimmernder Säuglinge.
Sehr rasch wurde aus dem professore ein »Signor Moskovitz« und später, zu
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