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Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt

Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt

Titel: Toskana Forever: Ein Reiseleiter erzählt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dario Castagno
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seiner großen Freude, einfach »Roy«.
    Bald würzte er seine Aussprüche mit Bemerkungen von der Art wie: »Wir Siensen …«, die in seinem eindeutigen, aber angenehmen amerikanischen Akzent umso sympathischer wirkten. Er mietete ein Zimmer in der Stadt, und wann immer er konnte, bestieg er ein Flugzeug und flog zu uns. Er verbrachte ganze Sommer hier und kehrte erst im September nach Amerika zurück – stets widerwillig -, um seine Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen.
    Als er pensioniert wurde, verlängerte er seine Aufenthalte in Siena auf neun Monate im Jahr, sodass ein Freund ihn eines Tages ganz spontan mit dem Ausruf begrüßte:
    »Willkommen zu Hause! Wie waren deine Ferien in Amerika?«
    In all dieser Zeit vertiefte Roy sein enormes Wissen über unsere Stadt. Freundlich ließ er andere an seinen unbegrenzten Kenntnissen teilhaben. Auf seinen täglichen Spaziergängen forderte er seine Begleiter nicht selten auf, vor einer kleinen Statue, einem Bild oder einem Schrein innezuhalten, und dann hielt er eine ausführliche Vorlesung über Ursprung und Geschichte des Werks – ein faszinierendes, oft aber auch demütigendes Erlebnis für seine Zuhörer, die möglicherweise ein Leben lang gedankenlos an dem betreffenden Ort vorbeigegangen waren.
    Sein Wissen ging über die Stadtmauern hinaus und erstreckte sich auch auf die umliegenden Gebiete. Keine einzige Kirche entging seinem hartnäckigen Wissensdrang, nicht einmal die in den entferntesten Ecken der Provinz versteckten. Nicht selten kam ihm der Ortsgeistliche bei seiner Ankunft entgegen und begrüßte ihn herzlich.
    Seine Freundschaft mit den Geistlichen beschränkte sich jedoch nicht auf die Priester auf dem Lande. Einmal entrüstete er sich über ein Gemälde im Dom, da dies bloß eine Kopie sei. Seine Freunde bezweifelten das und entrüsteten sich: »Roy, was sagst du da? Schließlich sind wir im Dom!« Er aber bestand darauf, mit dem Bischof zu sprechen. Wie es sich herausstelle, waren die zwei alte Bekannte, und er wurde mit offenen Armen empfangen. »Sie haben Recht, Roy«, sagte der Bischof, »das Bild ist eine Kopie. Wir haben es aufgehängt, um das echte zu schützen. Bisher hat es niemand bemerkt! Kommen Sie, ich zeige Ihnen das Original.« Dann begleitete er Roy und seine sprachlosen Begleiter in einen Hinterraum, wo er einen Safe öffnete und das echte Bild herausnahm. Roy verbrachte mehrere Minuten damit, es stumm zu betrachten, und sagte dann: »Gut, jetzt bin ich zufrieden. Wir können gehen.«
    Es war nicht ungewöhnlich, ihn mitten in der Nacht allein auf den Straßen der Stadt anzutreffen, wenn er in aller Ruhe irgendeine unbedeutende Sehenswürdigkeit suchte, die seiner Aufmerksamkeit bisher entgangen war, oder vielleicht einfach, um die Atmosphäre der malerischen Sträßchen zu genießen. Glücklicherweise ist manches von Roys Wissen erhalten geblieben, weil er für die Zeitschrift der Raupe viele Artikel über die sienesische Kunst und Kultur geschrieben hat.
    Roy brachte allen Respekt entgegen, und nie hörte man ihn ein schlechtes Wort über irgendjemanden sagen. Er war witzig, auch wenn sein angelsächsischer Humor nicht immer verstanden wurde. Er kleidete sich etwas professoral und für das italienische Auge ungewohnt. So war er ungepflegt, aber ganz Gentleman, mit einem Hauch intellektueller Verschrobenheit. In seinen Ansprüchen war er auffallend bescheiden. Alles, was er zum Glück brauchte, war angenehme Gesellschaft, ein Glas Rotwein und eine Zigarre. Sogar wenn in der Zeit vor dem Palio die Karten für die Raupe ungünstig standen, verlor er die Zuversicht nicht. Zu gewinnen schien ihm ein unwesentliches Detail zu sein. Für ihn bedeutete die contrada das Paradies, so wie sie war, und auch eine Palio-Fahne konnte keine Steigerung bewirken. Aber er hörte gerne den unvermeidlichen und erhitzten Diskussionen über das Rennen zu. Oft stellte er voller Verwunderung und Belustigung fest, wenn zwei Sienesen über den Palio sprächen, bekäme man stets drei Meinungen zu hören.
    Roys Ankunft war jedes Mal der Vorwand für ein Festessen, und langsam bekam man den Eindruck, dass seine Reisen zurück nach Amerika eine Art Urlaub waren, den er brauchte, um sich von all den ausgedehnten Mahlzeiten und den Unmengen an Wein zu erholen. Nach jeder Rückkehr kamen ihm die Straßen Sienas noch steiler und die Tribünen für den Palio noch enger vor. Die Frauen der Raupe erzählen, dass er oft in die contrada gekommen sei mit Flecken auf dem Hemd

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