Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
Hal mit Klebeband aneinandergefesselt, sie umarmte ihn, seine Hände steckten immer noch hinter seinem Rücken in Handschellen. »Und jetzt seine Fußgelenke.«
Hal senkte den Kopf, bis sein Mund an ihrem Ohr lag. »Es tut mir so leid«, flüsterte er. »Das ist alles meine Schuld.«
Sie fand keine Antwort. Er hatte aus ehrenwerten Motiven heraus gehandelt und dennoch genau das Falsche getan. Indem er versucht hatte, sowohl seiner Arbeit als auch seiner Frau gerecht zu werden; sein Zuhause zu retten; Sarah zu beschützen.
Sie verscheuchte die aufwallenden Gefühle und versuchte sich auf den Moment zu konzentrieren. Es war nicht schwer zu erraten, was Korsakov da eben gemeint hatte. Hal war hilflos – wenn Caitlyn sich selbst befreite, würde er sterben. Wenn sie es nicht tat, waren sie beide dem Tode geweiht.
Es sei denn, sie fand einen Weg, sich und Hal gleichzeitig loszubinden. Der Schlüssel für die Handschellen steckte immer noch in ihrer Tasche. Vielleicht würde es ihr gelingen, sich erst selbst ihrer Fesseln zu entledigen und Hal anschließend zu retten.
Während Max noch mit dem Klebeband hantierte, nahm Caitlyn tiefe Atemzüge. Als er zurücktrat, war sie auf den Tauchgang vorbereitet.
»Wirf sie rein!«, befahl der Russe.
Max nahm ein paar Schritte Anlauf, dann rammte er Hal und Caitlyn und beförderte sie so über das Ende des Stegs ins Wasser.
Beinahe hätte Caitlyn den so mühsam aufgestauten Atem sofort wieder ausgestoßen, als sie nach dem Sturz im Wasser landeten. Denn es war kalt, eiskalt. Die dunklen Fluten verschlangen sie sofort, bis nur noch ein schwacher Funken des rubinroten Sonnenuntergangs über ihnen erkennbar war.
Die Strömung war sehr stark, wenn es hier auch noch keine Stromschnellen gab. Caitlyn versuchte, sich Hals Körper zu entwinden, während sie der Strom weitertrug. Hal leistete keinerlei Gegenwehr. Im Gegenteil, er versuchte ihr sogar noch zu helfen, als hätte er sein Schicksal bereits akzeptiert.
Sie wünschte, sie könnte ihm irgendwie mitteilen, dass er durchhalten solle, dass sie einen Plan habe. Sie streckte die Arme ganz weit aus und hob sie über seinen Kopf, obwohl das Wasser sie immer weiter in die Tiefe zog. Während der Fluss sie unausweichlich vom Strudel auf den Wasserfall zutrieb, prallten sie gegen Felsbrocken und einen Baumstamm, der sie kurzfristig abbremste. Sie nutzte die Chance und schlang ein Bein um Hals Achsel, denn ihr war klar, dass sie ihn in dem dunklen Wasser niemals wiederfinden würde.
Der Schlüssel steckte in der Vordertasche ihrer Jeans, aber mit ihren gefesselten Händen konnte sie kaum in den nassen Stoff greifen. Sie rammte erneut mit der Hüfte einen Felsen und hätte Hal beinahe verloren. Da ertastete sie endlich den Schlüssel.
Mit brennender Lunge und halb blind vor Sauerstoffmangel griff sie zu und versuchte dann, Hals Arm zu fassen zu bekommen. Doch es schien, als würde er sie wegdrücken.
Jetzt erreichten sie die Stromschnellen. Hal wurde gegen einen Felsbrocken gewirbelt, blieb aber dann stecken, sodass sie inmitten der reißenden Strömung zum Stillstand kamen. Caitlyn hob den Schlüssel, zeigte ihn Hal und presste ihr Gesicht so nahe wie möglich an seines, konnte ihn aber trotzdem nur verschwommen erkennen. Er musste sich nur so weit umdrehen, dass sie an seine Handgelenke kam.
Ihre Lunge schien zu bersten, doch sie unterdrückte weiterhin den Drang, den Mund zu öffnen und Wasser zu schlucken. Das schaffst du nie, flüsterte eine verräterische Stimme in ihrem Innern. Nein. Sie würde ihn retten. Das musste sie einfach.
Sie kämpfte gegen den starken Sog und zerrte an seinem Arm. Spürte Metall. Beinahe …
Doch der Schlüssel rutschte an den Handschellen ab, entglitt ihren tauben Fingern und war weg. Hals Blick traf ihren, seine Augen waren alles, was sie in dem dunklen, reißenden Wasser wahrnahm.
Er presste seine Lippen auf ihre, atmete die ihm verbliebene Luft in ihren Mund. Dann schüttelte er traurig den Kopf und riss sich von ihr los, drückte sich mit den Beinen vom Fels ab, sodass sie nach oben trieb, während er von dem Strudel in die Tiefe gezogen wurde.
Sie durchbrach die Wasseroberfläche, rang nach Luft. Die Stromschnellen wollten sie wieder hinunterziehen, doch sie kämpfte sich frei und nahm noch einen Atemzug. Hal, wo war er? Sie drehte und wand sich, um ihn zu finden.
Doch er war fort. Er hatte sich für sie geopfert.
Sie würde nicht zulassen, dass er umsonst gestorben war. Das Dröhnen des
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