Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
Wasserfalls war jetzt noch lauter, übertönte alles, selbst ihr vor Angst laut pochendes Herz.
Wieder riss die Strömung sie unter Wasser, und sie blieb in einem Gewirr aus Ästen hängen. Da war ein rotes Schimmern unter ihr – die Wasseroberfläche? Oder sah sie aus Sauerstoffmangel bunte Lichtblitze?
Der Wunsch, einfach auszuatmen, den letzten Sauerstoff abzugeben und sich dem Wasser zu überlassen, wurde übermächtig.
Die Vorstellung, endlich Frieden zu finden, war so verlockend.
Caitlyn strampelte sich aus den Ästen frei, kämpfte sich in Richtung des dunkelroten Flimmerns vor. Obwohl sie kaum noch Kraft in den Beinen hatte, schwamm sie gegen den Sog an, paddelte wie wild durch das aufgewühlte Wasser, bis sie dachte, ihre Lunge würde bersten.
Das verschwommene Rot wurde schwächer, schien sich zu entfernen. Sie bekam Panik und mobilisierte ihre letzten Kräfte.
Sie konnte nicht mehr klar denken, spürte weder Arme noch Beine. Schwerelos trieb sie durch den Raum. Hatte sich ihr Vater wohl so gefühlt, kurz bevor sein Verstand ausgesetzt hatte?
Plötzlich traf ihr Rücken auf das Flussbett, die Felsen rissen den Rücken auf. Sie stieß sich, holte keuchend Luft, schluckte jedoch nur Wasser und begann zu würgen, doch im nächsten Moment durchbrach sie die Oberfläche und atmete frische Luft ein.
Nach einigen tiefen Atemzügen konnte sie endlich wieder etwas erkennen und blickte sich um. Ihr Bein klemmte unter einem Felsblock, der sie gefangen hielt. Zum Glück, denn das kleine Becken, in dem sie gelandet war, war das letzte vor dem Wasserfall. Die Gischt der tosenden Wassermassen funkelte im Mondlicht wie tausend kleine Sterne.
Sie hob den Kopf, suchte das Flussufer ab. Niemand da. Korsakov und sein Komplize waren fort. Auch von Hal war nichts zu sehen. Sie blinzelte, bis sie kein Wasser mehr in den Augen hatte, und schaute zum vollen Mond auf, der so tief hing, dass sie glaubte, ihn berühren zu können.
Jetzt hing alles von ihr ab. Alleine, unbewaffnet, halb ertrunken. Aber außer ihr gab es niemanden mehr, der den Russen aufhalten und die Stadt retten konnte.
52
Forschend blickte Sarah in Sams Gesicht. Der helle Schein der Taschenlampe beleuchtete die tiefen Furchen, die der Schmerz in sein Gesicht gegraben hatte. Und gleich würde sie ihm noch viel mehr wehtun müssen.
Ihr wurde zum ersten Mal bewusst, dass ihre Wut auf ihn verraucht war. Sam hatte Fehler gemacht. Viele Fehler. Aber er hatte sich geändert, und alles, was er in den vergangenen zwei Jahren unternommen hatte, war in der Hoffnung geschehen, sie und Josh dadurch schützen zu können. Zwar hatte sie ihm noch nicht vollkommen vergeben, das würde sie vielleicht niemals – doch allmählich verstand sie ihn etwas besser.
Sie streckte die Hand nach seiner aus und drückte sie fest. »Ich liebe dich, mein Musikus.«
Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Sie nutzte die Gelegenheit, um sein Bein mit einer schnellen, entschlossenen Bewegung herumzureißen. Sein Schrei fing sich in der kleinen Fahrerkabine. Sämtliches Blut wich ihm aus dem Gesicht, und er krallte sich fest in ihre Hand. Dann ließ er los und sackte nach hinten. »Vielen Dank für die zartfühlende Behandlung!«
»Hat doch funktioniert, oder etwa nicht?« Sie wandte sich wieder seinem Knöchel zu. Er war bereits stark geschwollen, ganz lila angelaufen, blutete an einigen Stellen, dort, wo die Haut abgeschürft war. Aber immerhin war er noch in einem Stück. »Dann wollen wir dich mal hier rausholen.«
Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, Sam aus dem Truck zu schälen. Da er das Bein nicht belasten konnte, stützte er sich auf Sarah ab.
»Moment«, sagte sie und reichte ihm die Taschenlampe. Dann angelte sie sich seinen Gitarrenkoffer aus dem Wagen, hievte ihn über den Sitz und hängte ihn sich über den freien Arm.
Voller Dankbarkeit packte er sie und küsste sie leidenschaftlich.
»Na los! Julia wartet.« Sie schleppte ihn bergabwärts bis zu der Stelle, an der sie den Wagen geparkt hatte. Der Pick-up war kurz vor einer engen Kurve von der Fahrbahn geschleudert worden und unterhalb der Kehre wieder nahe der Straße gelandet. Das ersparte es ihnen, bergauf zu klettern.
Julia hatte sich im Gebüsch am Straßenrand versteckt. Als Sam und Sarah näher kamen, stürzte sie auf die beiden zu und half mit, Sam zum Wagen zu schaffen.
Sarah ließ den Gitarrenkoffer sinken und wollte ihn gerade hinten reinwerfen, als über ihnen in einer Kurve Scheinwerfer
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