Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
Wange wollte nicht aufhören zu zucken. »Schätze, ich sollte nach Hause gehen und mich ein wenig ausruhen.«
Das klang gut. Er schien kurz vor dem Burn-out zu stehen, und die stets besonders anstrengende Touristensaison hatte gerade erst begonnen. Wieder schalt Sarah sich dafür, dass sie ihren Freunden gegenüber nicht aufmerksam genug war. Wie viel hatte sie in den letzten zwei Jahren verpasst, als sie so auf ihre eigenen Nöte fixiert war? »Warum nimmst du dir nicht eine kleine Auszeit? Du hast seit Ewigkeiten keinen freien Tag mehr gehabt. Mach doch mal Urlaub, irgendwo ganz weit weg, such dir ein hübsches Mädchen und brich ihr das Herz, so wie mir damals in der Schule.«
Das brachte ihn zum Lächeln. »Ich bin zweiunddreißig – wenn ich einem jungen Mädchen nachstellen würde, müsste ich mich selbst verhaften.« Sein Blick richtete sich aufs Fenster und auf die Berge, die sich dahinter abzeichneten. »Davon mal abgesehen sind wir wohl beide an diesen Ort gebunden.«
Er reichte ihr das Funkgerät und Ersatzbatterien. Sie brachte ihn noch zur Tür. Dort standen sie eine Weile gemeinsam auf der Veranda, im Schatten des über ihnen aufragenden Snakehead.
»Wie lange hast du vor, da oben zu bleiben? «, fragte er.
»Ein paar Tage. Dann komme ich zurück und hole neue Vorräte.«
Er zog die Stirn kraus. »Wie wäre es, wenn du mir einen festen Zeitpunkt nennst, damit ich niemanden rausschicken muss, um nach dir zu suchen? Freitagnachmittag bist du wieder zurück, einverstanden? Und dann lässt du dich von Alan übers Wochenende nach Montreal zu dieser Ausstellung fahren. Um einfach mal auszuprobieren, wie sich ein Leben weit weg von all dem hier anfühlen könnte.«
Hal schaute sie mit diesem halsstarrigen Gesichtsausdruck an, der keinerlei Widerspruch duldete. Anscheinend hatte sich der gesamte Ort verschworen, um sie und Alan zu verkuppeln. Ein Wochenendausflug, bei dem einmal nicht Mord das Hauptthema war, klang allerdings wirklich nett.
Also lenkte sie ein. »Na schön! Aber nur unter einer Bedingung. Du musst auch mal rausfahren. Einfach ins Blaue hinein, ein wenig Spaß haben, und Hopewell für ein, zwei Tage sich selbst überlassen.«
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, doch sein Blick blieb freudlos. »Abgemacht. Komm am Freitag zurück, fahr mit Alan nach Montreal, dann werde ich mich ganz offiziell ins Unbekannte aufmachen.«
»Lass dich dabei bloß nicht festnehmen, Chief.« Jetzt lächelte Hal verschmitzt, wie über einen privaten Scherz zwischen ihnen beiden, den er mit niemandem teilen würde.
»Alles Gute, Sarah! Pass auf dich auf!« Er schlenderte den Weg entlang zu seinem Geländewagen. »Melde dich, wenn was ist!«
»Ich werde dich nicht brauchen. Geh du nach Hause und ruh dich ein wenig aus.«
Beim Einsteigen winkte er ihr zum Abschied kurz zu, hupte noch einmal und machte dann Kies aufwirbelnd eine volle Kehrtwende. Die Tannen neben dem Weg bogen sich im Wind, als wollten sie hinter Hal zusammenrücken. Nachdem sich der Staub wieder verzogen hatte, wurde es still.
Sarah atmete tief durch, als hätte sie einen langen Tauchgang vor sich. Sie nickte als Antwort auf die stumme Herausforderung des Berges in seine Richtung und ging ins Haus, um ihre restliche Ausrüstung zusammenzusammeln.
Die Jagdhütte des Colonels bot das letzte schützende Dach vor dem Berggipfel und lag ganz am Ende der Straße oder genauer gesagt, des unbefestigten Weges. Sarah wollte mit dem Wagen dorthin fahren und sich von der Hütte aus nach unten vorarbeiten. Bei den milden Temperaturen würde sie nicht einmal ein Zelt benötigen. Alles, was sie brauchte, war ihr Schlafsack und eine Plane. Wenn das Wetter umschlagen sollte, was in Gipfelnähe häufiger vorkam, konnte sie immer noch in der kleinen Hütte unterkommen.
Selbstredend würde die Frau des Colonels es unmöglich finden, dass Sarah als Frau allein in einer Holzhütte ohne sanitäre Anlagen und Elektrizität oder gar unter freiem Himmel übernachten wollte. Bei dem Gedanken musste Sarah lächeln.
Es war nicht so, dass sie die Frau des Colonels nicht mochte oder das Gefühl hatte, niemand könne je ihre Mutter ersetzen. Na schön, es war nicht nur das Problem, dass sie die Frau des Colonels nicht mochte. Tatsächlich hatte Victoria ihr überhaupt nie die Gelegenheit gegeben, sie kennenzulernen, geschweige denn zu mögen, ehe sie beim Colonel eingezogen war und in seinem Leben das Kommando übernommen hatte.
Der Mann hatte im Vietnamkrieg
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