Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
behielt sie jedoch oft noch einige Zeit bei sich, manchmal sogar Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte. Als Sarah zehn Jahre alt gewesen war, hatten Jäger die Überreste zweier Menschen entdeckt, die später von Wissenschaftlern des Smithsonian Museums als amerikanische Ureinwohner aus dem zwölften Jahrhundert identifiziert wurden.
Ein Mann und eine Frau. Ein Selbstmordpakt? Die Wissenschaftler waren uneins gewesen. Handelte es sich um die indianische Version von Romeo und Julia? Oder waren die beiden real existierende Vorbilder für Ahweyoh, die Himmelsfrau, und den Donnergott gewesen, dem die Indianerprinzessin einer Legende der Irokesen nach ihr Leben geopfert hatte?
Sarah hatte Sam in der ersten Nacht, die sie hier gemeinsam verbracht hatten, von den uralten Knochenfunden erzählt. Die Herbstnacht war gerade kalt genug gewesen, dass es ein Feuer und die Arme des anderen brauchte, um nicht zu frieren.
Sogar Sam hatte zugeben müssen, dass dieser vom Wind glatt geschliffene Felsüberhang mit Aussicht auf die Baumwipfel wie ein Platz in der ersten Reihe des Himmels und somit einer der romantischsten Orte auf der Welt war. Solange man nicht nach unten schaute.
Untermalt vom fröhlichen Plätschern des Wassers und dem Tosen der Stromschnellen tief unten in der Schlucht hatten sie ihre Körper erkundet. Obwohl sie sich erst einige Wochen kannten, waren sie schon schwer verliebt, aber noch nicht bereit, das auch zuzugeben. Noch nicht.
»Also, erzählst du mir von der Indianerprinzessin?«, hatte Sam gefragt und die Gitarre zur Seite gelegt.
Sie hatte sich an ihn gekuschelt, während er mit den Fingerspitzen die Haut an der Innenseite ihres Handgelenks streichelte, als könnte er ihr wie dem Instrument eine Melodie entlocken.
»Bist du sicher, dass du die Geschichte hören willst? Die meisten Versionen enden unglücklich.«
»Vielleicht schreibe ich ja ein Lied über sie. Und denke mir ein glückliches Ende aus.«
»Sie war keine Prinzessin. Bloß ein junges Mädchen vom Flussvolk. Sie weigerte sich jedoch zu heiraten, obwohl ihre Familie es ihr befahl. Stattdessen erwählte Ahweyoh einen Geliebten. Einen Fremden, der ihrer Familie durch seine breiten Schultern und seine dröhnende Stimme Furcht einflößte, denn er weckte längst vergessene Erinnerungen an Kriege zwischen den Göttern und bösen Wesen. Wenngleich diese alten Legenden ein Teil ihrer Herkunft und wohlbekannt waren, wollten sie doch nichts damit zu schaffen haben. Nein, alles, was sie wollten, war in Ruhe und Frieden am Fluss leben, Fische fangen und ihre Ernte eintreiben.«
»Ha!«, sagte Sam und lachte glucksend in sich hinein. »Wetten, dass sich das junge verliebte Paar davon nicht abhalten ließ.«
Sarah versetzte ihm einen Stoß in die Rippen und erzählte weiter: »Ahweyoh wurde wegen ihrer Liebesaffäre vom Flussvolk ausgestoßen und aus dem Ort verbannt. Sie belud ihr Kanu und fuhr davon, weiter, als jemals ein Mitglied ihres Volkes gereist war. Ein undurchdringlicher Nebel nahm sie gefangen, Sturmwinde warfen sie umher, aber sie folgte der Strömung und hielt ihren Kurs. Als sich die Wolken lichteten, erwartete sie dahinter He-noh, ihr Geliebter. Er zeigte sich ihr in seiner wahren Gestalt – als Donnergott. Er bat sie, ihn zu heiraten und mit ihm ein Haus in den Wolken zu beziehen.«
»Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute«, ergänzte Sam, vergrub die Lippen an ihrem Hals und ließ die Hände unter ihr Oberteil gleiten.
»Nicht so schnell, Musikus. He-noh berichtete Ahweyoh von einer uralten Prophezeiung. Ein böser Schlangendämon würde das Flussvolk angreifen und vernichten. Also verzichtete sie auf die Unsterblichkeit, reiste nach Hause zurück und warnte ihr Volk. Überzeugt, der Gott hätte Ahweyoh fallen gelassen, nachdem er genug von ihr gehabt hatte, verspotteten die Flussbewohner die junge Frau und lachten über ihre Geschichte. Dann griff der Wasserdämon an. Ahweyoh rief ihren Donnergott um Hilfe, und gemeinsam kämpften sie gegen die Schlange. Ahweyoh paddelte auf den Fluss hinaus und lockte den Dämon hinter sich her, damit He-noh einen Blitz in das Auge der Schlange schleudern konnte.«
Als Sam unruhig hin und her rutschte und die Arme noch enger um sie schlang, wusste Sarah, dass ihn die Erzählung doch noch gepackt hatte. Typisch Mann – zeigt keinerlei Interesse, bis es blutrünstig wird.
»Der sich windende Körper der Schlange formte die Schlucht und verwandelte den ehemals ruhigen
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