Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
Fluss in ein tückisches Gewässer voller Stromschnellen und Wasserfälle. Die Schlange rollte sich zusammen und wollte sich gerade auf Ahweyoh stürzen, als der Donnergott aus dem Nebel auftauchte und ihr den Kopf abschlug. Dort, wo er zur Seite fiel, entstand der Snakehead Mountain . Der Körper des Dämons bildete die anderen Berge im Osten und Süden.«
Sarah breitete die Arme aus, um die gewundenen Kammlinien der im Dunkel liegenden Berge nachzuzeichnen. Sam tauchte unter ihrem Arm hindurch zu ihr nach vorn, küsste sie leidenschaftlich und schob sie dabei auf den Rücken. »Na siehst du, also doch ein glückliches Ende«, sagte er, als sie Luft holten.
Sarah beließ es dabei und gab sich Sams Leidenschaft hin. Doch sie wusste, in Wahrheit war dem Liebespaar in den meisten Legenden keineswegs ein glückliches Ende beschieden.
Während sie jetzt ihre Plane auslegte und etwas Wasser trank, kam ihr der alte Mythos wieder in den Sinn. Ihre Kehle war ausgedörrt, mit zitternden Muskeln setzte sie sich an den Felsvorsprung und blickte gen Süden über die Schlucht. Die Lichter von Hopewell lagen in einer Senke westlich von hier und waren von hier aus nicht mehr zu erkennen.
Sarah war allein mit sich, den Felsen, ein paar wenigen Eichen und Tannen, die dem harten Untergrund trotzten und hier Wurzeln geschlagen hatten, einer Eule auf Jagd, deren Umriss sich vor dem hellen Mond abhob, und der Legende einer verstorbenen Irokesenjungfrau.
Nachdem Ahweyoh ihr Volk gerettet hatte, war sie – wie so viele Heldinnen und Helden – dennoch nicht gerade herzlich empfangen worden. Die Menschen gaben ihr die Schuld an der Zerstörung des Dorfes und ihrer Häuser. Schließlich hatten sie ein friedliches Leben geführt, ehe Ahweyoh sie in die Kämpfe zwischen Göttern und Dämonen hineingezogen hatte.
Zwischen zwei Welten gefangen und – da sie das Geschenk der Unsterblichkeit abgelehnt hatte – auch nicht in der Lage, zu ihrem Geliebten zurückzukehren, blieb Ahweyoh nur noch eines: ihre Liebe zu He-noh.
Unter einem vollen Mond steuerte sie spätnachts durch die Stromschnellen, die den ehemals ruhigen Fluss aufwühlten. Dann legte sie ganz ruhig das Paddel beiseite, hob die Arme und ließ sich vom Sog des Wassers auf die Upper Falls zutreiben. Im Fall rief sie den Namen ihres Geliebten, weil sie fest darauf vertraute, dass er dem feuchten Dunst entsteigen und sie retten würde. Dort, in dem Nebel, der sich jede Nacht über den Berg legte, könnten sie für immer zusammen leben – zwischen der Wolkenwelt der Götter und dem festen Grund aus Fels und Erde, der den Sterblichen vorbehalten war.
Sarah streckte sich, wurde von den zarten Nebelschwaden, die aus dem Wald hinter ihr hervordrangen, eingehüllt und wünschte sich, sie wären so warm wie damals Sams Arme. Der Mond zwinkerte immer mal wieder zwischen den Wolken hervor. Die Eule schrie triumphierend auf, flatterte raschelnd an ihr vorbei und flog dann mit leisem Flügelschlag über die Schlucht davon. Sarah saß ganz still, während alles um sie herum im Nebel versank. Ihr war, als ließe sie ihren Körper zurück und beträte ebenfalls eine Zwischenwelt – dieses Niemandsland, den einzigen Ort, an dem Ahweyoh und He-noh zusammen sein konnten.
Es gab verschiedene Versionen der Legende. In einer kam das Liebespaar am Ende zusammen, und es hieß, ihre unsterblichen Seelen würden jede Nacht als körperlose Nebelschwaden den Berg besuchen, da ihre sterblichen Hüllen auf den Felsen unter dem Wasserfall zerschellt waren. Dieses Ende betonte das große Opfer des Donnergottes, der seine eigene Unsterblichkeit aufgab, um mit seiner großen Liebe vereint zu sein.
Einer anderen Auslegung nach wurde der Donnergott von seinen Brüdern eingesperrt, ehe er Ahweyoh erreichen konnte. Sie hatten ihn gefangen genommen und an die Wolken gekettet, ihm nicht erlaubt, zur Erde hinabzufahren, weil sie selbst sonst schutzlos zurückgeblieben wären. Als er voller Entsetzen mit ansehen musste, wie Ahweyoh und ihr Kanu durch die Luft gewirbelt wurden, sie auf dem harten Felsboden zerschmettert und von den Strömungen hinweggetragen wurde, hallten seine ohrenbetäubenden Schreie durch die Schlucht.
Das Frösteln, das von Sarah Besitz ergriff, erinnerte sie daran, dass sie selbst nur ein Mensch war. Sie blinzelte, rekelte sich und griff nach ihrem Rucksack. Das Lagerfeuer würde sie sich sparen, jedenfalls heute Nacht. Stattdessen vertilgte sie einen Müsliriegel und mummelte sich in ihre
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