Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
Vliesjacke.
Sarah brachte ihren Schülern alle Versionen der alten Erzählung bei, ihr persönlich gefiel jedoch das dritte Ende am besten. Seit sie es als kleines Mädchen zum ersten Mal gehört hatte.
In dieser Version erkannten die Götter, denen Ahweyoh im Kampf gegen den Schlangendämon geholfen hatte, ihren Mut. Als sie sich in dunkler Nacht die Upper Falls hinabstürzte, teilte sich der Nebel und ein hell schimmernder Mondstrahl fiel hindurch, der ihr den Weg zurück zu ihrem Donnergott in die Wolkenwelt wies. Er saß auf dem Lichtstrahl und fing sie auf, als sie ins Straucheln geriet und hinabzufallen drohte.
Und natürlich lebten sie gemeinsam glücklich bis in alle Ewigkeit.
Sarah knüllte die Verpackung ihres notdürftigen Abendessens zusammen und steckte sie in den Rucksack.
Dann wickelte sie sich gut in ihre Plane ein, damit sie nicht vollkommen durchnässt vom Morgentau aufwachte, und schloss die Augen, noch immer ganz in der mythischen Welt gefangen, die sie umgab.
Sie war zu alt, um weiterhin an Märchen zu glauben. Schon gar nicht an solche mit einem glücklichen Ende.
12
Donnerstag, 21. Juni
Als Sarah aufwachte, war sie ganz benommen und fühlte sich wie gerädert. Ihr schwamm der Kopf, die Augen waren verklebt. Sie war vollkommen dehydriert. Wie dumm von ihr, sie hätte bei ihrem Aufstieg gestern mehr trinken sollen.
Sie fuhr sich über das Gesicht und stürzte einen Liter Wasser hinunter, anschließend aß sie noch einen Energieriegel. Dann kämmte sie sich mit den Fingern, band ihr Haar zusammen und fühlte sich schon fast wieder wie ein Mensch.
Der einzige Mensch weit und breit. Der über dem Snakebelly hervorstehende Felsvorsprung schien Zeit und Raum enthoben. Die Bergspitzen im Süden ragten wie die Wellenkämme eines Ozeans aus graublauem Nebel auf. Hoch oben kreisten einige Falken, flogen auf die Sonne zu, die den Osthang des Snakehead krönte. Das einzige Geräusch war das Rascheln des Windes in den Zweigen und das ferne Grollen der Wassermassen tief unten in der Schlucht.
Sie atmete die erfrischende Morgenluft ein. Gestern war alles irgendwie unwirklich gewesen, der heutige Tag jedoch zog klar und strahlend herauf.
Nachdem Sarah ihr kleines Lager aufgeräumt hatte, holte sie ihr Fernglas hervor. Einen kurzen Moment lang genoss sie den Anblick der Falken, ging dann zum äußersten Rand des Felsvorsprungs und robbte bäuchlings über die Kante. Sie spähte in die Schatten zwischen den Felsen knapp fünfzig Meter unter ihr.
Das Sonnenlicht fiel zwischen die Gesteinsbrocken und brachte die kleinen Strudel dazwischen zum Glitzern. Ein Jahrtausend lang hatte der Fluss hier den Felsen ausgehöhlt, eine unsichtbare Falle für die Unachtsamen. Obwohl ohnehin nichts und niemand den flussaufwärts gelegenen, mehrere Hundert Meter tiefen Wasserfall überleben konnte.
Sarah suchte die tückische Rinne mit den Augen ab. Vereinzelt stachen große Äste hervor wie das Skelett eines Waldes. Etwas weißlich Schimmerndes stach ihr ins Auge.
Sie korrigierte sich. Eher ein Wald aus Skeletten.
Nun, zumindest Teile eines Gerippes. Sie zoomte näher heran, wollte herausfinden, ob die Knochen mit etwas Menschlichem verbunden waren. Hal hatte recht gehabt, in letzter Zeit hatte es mehrere Felsrutsche gegeben. Der Boden war mit gerade erst herabgefallenen Gesteinsbrocken übersät.
Vielleicht handelte es sich auch um ein Reh. Der Snakebelly förderte immer mal wieder Tierkadaver zutage. Ihr Mund wurde trocken. Oder war es möglich, dass sie Sam gefunden hatte? Nach so langer Zeit?
Vor Aufregung bekam sie schweißnasse Hände, ihre Finger rutschten an dem kleinen Rädchen ab, mit dem sie das Bild noch näher heranholen wollte. Die Knochen – sie konnte jetzt zwei davon erkennen – waren lang und schmal. Sie verschwanden unter einigen Zweigen, die sich in der Strömung verheddert hatten.
Vielleicht doch ein Reh. Sarah atmete aus, ihr war gar nicht bewusst gewesen, dass sie den Atem angehalten hatte.
Da blitzte etwas Silbernes auf.
Rehe trugen keine Armbanduhren.
13
Nun, da Caitlyn endlich Washington und das öde Umland aus verschlungenen Freeways hinter sich gelassen hatte, konnte sie ihren Subaru ordentlich auf Touren bringen. Sie hielt sich links und drängelte jeden, der mit weniger als achtzig Meilen die Stunde vor ihr hertrödelte, gnadenlos von der Spur.
Eine Marke zu tragen hatte eben auch Vorteile. Zwar hatte sie ihren Privatwagen nehmen müssen, da sie nicht offiziell im Einsatz
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