Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
und schaute noch ein letztes Mal zu ihrem ehemaligen Chef zurück, der jetzt mit hochrotem Gesicht über das Telefon gebeugt dastand. Ihre Blicke trafen sich, er hielt den Hörer zwischen Wange und Schulter geklemmt, sah sie überrascht an. Sie lächelte freundlich und winkte zum Abschied.
Nachdem sich die Fahrstuhltüren geschlossen hatten, nahm sie ihr Mobiltelefon in die Hand und wählte eine Nummer. »Clemens? Hallo, hier ist Caitlyn. Könnten Sie eventuell einen Ihrer Kollegen in der Überwachungsabteilung bitten, einen ganz bestimmten Anschluss für mich anzuzapfen?«
* * *
Während Sarah sich die Felswand hinunterkämpfte, wurde sie von Erinnerungen überwältigt. Sie und Sam, Sam und sie – ein eingeschworenes Team, für das Regeln nicht galten.
Als sie sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte er sich unbefugt auf dem Schulgelände herumgetrieben, tänzelte den leeren Flur entlang, öffnete pfeifend eine Klassentür nach der anderen und schloss sie wieder.
»Kann ich Ihnen helfen?«, hatte Sarah mit ihrer besten Lehrerinnenstimme gefragt. Die Unbekümmertheit, mit der er sich aufrichtete, die dunkle Sonnenbrille absetzte und sie langsam von oben bis unten musterte, ärgerte sie.
Er kam näher und schenkte ihr ein Megawatt-Lächeln. »Ich suche den Musikraum. Oder die Konzerthalle. Ich brauche ein Klavier.«
»Sie brauchen ein Klavier?«, wiederholte Sarah, weil sie nicht ganz sicher war, ob sie ihn richtig verstanden hatte. »Entschuldigen Sie bitte, aber ist ihr Kind Schüler an dieser Schule, Herr –«
Er starrte sie an, dann kicherte er leise. »Nein, Ma’am. Kein Kind. Ist das ein Problem?«
»Das einzige Problem hier ist, dass sie unerlaubt auf das Schulgelände eingedrungen sind.«
»War denn heute nicht der letzte Schultag? Ich dachte, alle Kinder seien bereits fort?«
»Das tut nichts zur Sache.« Sarah musterte ihn prüfend. Das Gesicht war stark gebräunt, dadurch haftete ihm in Verbindung mit dem dunklen Haar und den dunklen Augen irgendwie etwas Exotisches an. Definitiv nicht aus der Gegend. Sein Akzent, besser gesagt der fehlende Akzent, ließen vermuten, dass er von der Westküste kam. Er war durchtrainiert, sehr muskulös und groß, trug ein weißes Polohemd und Jeans, die einfach perfekt saßen … ihr Blick glitt nach unten und blieb einen Tick zu lange dort hängen. Er drehte den Kopf nach hinten und sah über die Schulter an sich herunter.
»Stimmt was nicht? Habe ich mich in etwas reingesetzt?«
Sarah erstarrte, bemerkte peinlich berührt, wie sie rot wurde und hätte gleichzeitig beinahe laut losgeprustet. Wäre das hier nicht in der Schule geschehen, hätte sie nun die eigene Gafferei mit einem Scherz kommentiert. Besonders, da seine hochgezogene Augenbraue und das übertrieben anzügliche Grinsen ihr verrieten, dass er sie durchschaut hatte.
»Lassen Sie uns noch einmal von vorne anfangen. Ich bin Sarah Godwin.« Sie streckte die Hand aus.
Er erfasste sie, gab sie dann aber ganz artig rasch wieder frei. Allerdings wurde sein Lächeln noch ein bisschen breiter, bis sich kleine Lachfältchen um die dunklen Augen bildeten.
»Sam. Sam Durandt.«
»Sam Durandt. Der ganz dringend ein Klavier benötigt?«
»Genau. Es ist so, mein Keyboard ist noch nicht hier angekommen. Ich muss aber« – er rieb sich mit den Fingerknöcheln über die Schläfe – »dieses Lied zu Papier bringen, bevor es mich in den Wahnsinn treibt.«
»Ach, dann sind Sie also Komponist?«
»Nein. Ich meine, ich schreibe nicht nur die Musik. Sondern auch die Texte.«
Sarah spitzte die Lippen. Meinte der Kerl das etwa ernst? »Etwas, das man kennt?«
Er wippte auf den Fersen hin und her, hielt den Blick gesenkt. »Nein, noch nicht. Aber« – jetzt hellte sich seine Miene wieder auf, er strahlte sie an – »vielleicht ist dieser Song der Durchbruch. Falls Sie mich zu einem Klavier bringen können.«
Sie zögerte. Bis Mr Cole zum Saubermachen kam, war sie allein in dem Gebäude. Der Mann war eigentlich ganz nett und schien harmlos zu sein, dennoch …
»Ich werde es mieten«, platzte er in die längere Stille hinein.
»Mieten?«
»Ja. Ich habe zwar nicht viel Geld, aber wenn Sie mich an meinem Song arbeiten lassen, werde ich auch einen nur für Sie schreiben.« Er schaute ihr in die Augen, die großen dunklen Augen umrahmt von diesen langen schwarzen Wimpern. »Bitte! Es ist lebenswichtig.«
Sarah lachte. Er war schlimmer als ihre Schüler. »Na schön! Kommen Sie mit, Musikus!«
* * *
Sarahs
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