Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
Füße berührten den Granitfelsen, fanden aber keinen Halt, und sie rutschte ab. Das Seil rutschte ihr schneller durch die Hand als geplant. Sie zog an und spürte, wie ihr der Hüftgurt ins Fleisch schnitt. Nur wenige Zentimeter über einem großen Felsbrocken kam sie zum Stillstand.
Sie dachte nicht gern an jenen schicksalsträchtigen Tag zurück – weil das unweigerlich weitere Erinnerungen heraufbeschwor, die wiederum zu treulosen Gedankenspielen führten.
Hätte sie Sam nicht kennengelernt, dann wäre sie vielleicht mit jemand anderem zusammengekommen und sie wären noch am Leben; und wenn sie beide noch lebten, dann könnte auch Josh noch bei ihr sein. Nur würde er gar nicht Josh sein, weil Sam dann ja gar nicht der Vater wäre – dennoch hätte sie immerhin noch einen von ihnen beiden bei sich …
Sie lehnte sich am Seil zurück, blinzelte in die grelle Sonne und verfluchte sich dafür, dass sie ihre Sonnenbrille vergessen hatte. Sie kämpfte die aufsteigenden Tränen nieder und seilte sich weiter ab, bis sie auf einem halb überspülten Felsbrocken zum Stehen kam. Das Wasser leckte an ihren Bergstiefeln, wollte ihr den Stand rauben.
Ein Sturz an dieser Stelle wäre verhängnisvoll.
Aber welche Verletzung könnte schlimmer sein, als diejenige, die sie bereits erlitten hatte? Sie hatte sich verliebt, und wohin hatte das geführt? Sie war verzweifelt, zerschunden, gebrochen.
Die letzten Worte hallten stakkatoartig in Sarahs Kopf wider, wie im Rhythmus der pulsierenden Ader an ihrer Schläfe. Sam hätte ein Lied daraus gemacht. Keines dieser lustigen, nicht ganz ernst gemeinten Lieder, die er meistens verfasst hatte.
Vielmehr eine Ballade, ein Klagelied. Tieftraurig. Eines, das selbst ein Herz aus Stein erweichen könnte.
Sarah musste immer heftiger blinzeln, schob das aber auf das Sonnenlicht, das von den nassen Felsen reflektiert wurde. Sie streckte die Hand nach einem der weiß glänzenden langen Knochen aus, die aus dem Wasser ragten.
Nein . Ruckartig zog sie die Hand zurück. Zuerst Fotos machen. Den Tatort dokumentieren.
Durch den Sucher der Kamera wirkte alles irgendwie weiter weg, unpersönlicher. Als ob das hier möglicherweise nicht wirklich geschah und das hier vielleicht nicht Sam war … und falls es nicht Sam war, dann könnte Josh …
Sie rutschte ab, fing sich aber wieder, ehe sie von einem der verkeilten Äste aufgespießt wurde.
Pass auf ! Mit rasendem Puls setzte sie sich und überprüfte die Aufnahmen, während sie versuchte, ihren Atem wieder zu beruhigen. Das war knapp gewesen. Einige Fotos waren verschwommen, vielleicht wegen der Gischt, die von den dicht neben ihr hinabstürzenden Wassermassen bis zu ihr stob, vielleicht aber auch, weil sie am ganzen Körper gezittert hatte. Egal, sie hatte jedenfalls genug gelungene Aufnahmen.
Mit zittrigen Händen verstaute sie die Kamera. Dann griff sie nach dem Knochen.
Elle und Speiche, das wusste sie noch aus dem Anatomiekurs. Behutsam löste sie eine Schicht Blätter und Schwemmgut, unter der sich die Überreste dreier Finger befanden sowie der Knochen, der sie mit dem Unterarm verband. Die Finger lagen ausgestreckt auf einer Decke aus abgestorbenen Tannenzweigen, zeigten anklagend auf Sarah.
Ihr Atem ging flach, als ob es hier in der frischen Bergluft nicht genügend Sauerstoff gäbe.
Das war die rechte Hand eines Mannes. Sam hatte seine Uhr immer links getragen. War es nicht so?
Oder redete sie sich das bloß ein?
Sie machte noch einige Aufnahmen. Bei näherem Hinsehen waren kleine Zahnspuren an den Knochen zu erkennen. Zögerlich entfernte sie das dichte Gewirr aus Treibgut am anderen Ende des Knochens.
Ein gelber, grotesk angeschwollener Männerkopf tauchte aus dem Wasser auf – eine Fratze mit weit aufgerissenem Mund.
Sarah rutschte ab. Zog sich hastig auf den Felsbrocken zurück, fand jedoch keinen Halt, die Füße rutschten ihr unter dem Körper weg. Tote Blätter und Zweige wirbelten durch die Luft. Sie knallte rückwärts auf den harten Fels und schlug sich den Kopf an. Ein Fuß geriet unter Wasser, ein Gewirr halb vermoderter Pflanzenteile wollte sie mit in die Fluten ziehen …
Ohne das Sicherungsseil wäre sie komplett ins Wasser getaucht und der Strömung ausgeliefert gewesen. So lag sie rücklings, mit dem linken Bein gegen den Felsbrocken gestemmt, mit dem rechten bis zum Knie im Wasser, das ihr kalt in den Stiefel lief. Ihr Kopf tat weh, helle Sternchen tanzten vor ihren Augen. Sarah bekam keine Luft, es
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