Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
Hintergrundgeräusche verschwanden. »Bin unterwegs.«
Sie ließ das Funkgerät sinken und setzte sich auf die Fersen. Gerald Merton, ältester Sohn und Alleinerbe des Bestattungsunternehmens Merton unten in Merrill, war im Moment der zuständige Leichenbeschauer. Er würde in seinem Beerdigungsinstitut eine vorläufige Untersuchung vornehmen, und die sterblichen Überreste dann der Bundespolizei übergeben, in deren Labor ein richtiger Gerichtsmediziner die vollständige Autopsie durchführen konnte.
Hal würde bestimmt eine gute Stunde oder länger brauchen, um Gerald abzuholen und hier raufzufahren. Dann würde es noch eine weitere Stunde dauern, ehe sie über den Wanderweg bis nach unten zur Fundstelle vorstießen. Ein wenig schneller, falls Hal von der Rattlesnake Pike abfuhr und seinen Wagen neben der Straße parkte. Dann wären es nur knapp zehn Minuten zu Fuß, aber sie müssten sich durch einige unwegsame Waldstücke mit dichtem Unterholz schlagen.
Für Hal war das kein Problem, er war das gewohnt. Gerald hingegen war ein kränklich-blasser, übergewichtiger Mann in den Vierzigern, der mit seinem Bierbauch eher an den Weihnachtsmann erinnerte als an einen Leichenbestatter. Hinzu kam die Ausrüstung, die sie dabeihaben würden: eine Trage, Seile, der Leichensack und das alles.
Jedenfalls würde Sarah längere Zeit warten müssen. Darin war sie allerdings noch nie gut gewesen, und jetzt fehlte ihr erst recht die Geduld. Schließlich waren die lang ersehnten Antworten zum Greifen nahe.
Sie bewegte sich behutsam zum Rand der Schlucht und reckte den Kopf über die Kante, um nachzusehen, welche Schäden das Tauwetter in diesem Frühjahr an der Felswand angerichtet hatten. Es war nicht so schlimm, das war zu machen. Sie könnte sich abseilen, den Leichnam – oder das, was noch von ihm übrig war – für den Transport vorbereiten und ihnen allen so eine Menge Zeit ersparen.
Es wäre nicht das erste Mal. Nahezu jeder Erwachsene in Hopewell mit den entsprechenden körperlichen Voraussetzungen war Teil des Rettungsteams. Auf dem Snakehead gab es einfach zu viele nicht eingezeichnete Pfade, einladende Granitwände und unerforschte Höhlen. Mehrmals im Jahr wurden sie daher zusammengetrommelt, um nach verschwundenen Jägern, Wanderern, Bergsteigern und Hobbyhöhlenforschern zu suchen.
Als sie das letzte Mal einen Leichnam geborgen hatten, hatten sie ihn auch genau hier gefunden – es war Lily gewesen, Hals Ehefrau. Ziemlich auf den Tag genau vor zwei Jahren war Lily von den Upper Falls in den Tod gestürzt. Körperlich und seelisch vom Krebs gezeichnet, von unerträglichen Schmerzen geplagt, sodass die meisten es eine Erlösung genannt hatten – Hal jedoch hatte ihr Tod tief erschüttert.
Damit war es entschieden. Besser sie tat, was sie konnte, damit Hal sich so kurz wie möglich in der Schlucht aufhalten musste. Vielleicht ersparte sie ihm so wenigstens einige qualvolle Erinnerungen.
Außerdem musste sie einfach herausfinden, ob das da unten Sam war oder nicht.
Sarah sicherte sich rasch mit einem imprägnierten Elf-Millimeter-Seil an einem größeren Felsbrocken und legte den Klettergurt an. Ihre Rettungsausrüstung – Schutzhandschuhe und Halsbonbons gegen den Verwesungsgeruch – hatte sie nicht dabei. Aus der Ferne betrachtet hatte es allerdings auch nicht den Anschein gehabt, als ob noch sehr viel Übelriechendes an der Leiche dran wäre.
Sie leerte den Rucksack, nahm nur den Fotoapparat, die Plane, Klebeband, eine Taschenlampe und einige Plastiktüten mit. Dann schnallte sie ihr Messer und die Kletterausrüstung an ihren Gurt. Einen Helm hatte sie nicht dabei. Der Colonel hätte ihr ganz schön was erzählt – es war gegen die Vorschriften.
Der Gedanke entlockte Sarah ein Grinsen. Regeln waren dazu da, damit man sich darüber hinwegsetzte. Das hatte sie und Sam überhaupt erst zusammengebracht.
Die Felswand reflektierte die hellen Sonnenstrahlen und erwärmte sich langsam. Sarah brachte sich in Position, überprüfte noch einmal den Sicherungshaken und machte einen Schritt rückwärts, in die Tiefe.
15
Nicht einmal zwei Stunden später war Caitlyn bei Jack Logans neuer Arbeitsstätte angelangt: ein glänzender Hochhausturm mit fantastischer Aussicht auf die Innenstadt von Hartford. Logans Job als Sicherheitsberater eines multinationalen Versicherungskonzerns war eindeutig besser bezahlt als der alte im Staatsdienst, entschied sie, als sie sein Büro betrat. Die Glaswände zierten
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