Tot ist nur, wer vergessen ist (German Edition)
einen Witz zu lachen schien, den nur er verstand. Sie selbst war nicht sicher, ob ihr nach Lachen oder Weinen war.
Gute Neuigkeiten. Sie war nicht verrückt.
Die schlechte Nachricht war, dass sich Sam immer noch irgendwo da draußen befand. Und Josh somit auch.
Aber wer zum Teufel war LR , und warum hatte ihn niemand als vermisst gemeldet?
16
Er blieb am Rand der Lichtung stehen, so wie jedes Mal, wenn er den Berg hinunterkam. Normalerweise erlaubte er sich das aber nur im Schutz der Dunkelheit. Ein merkwürdiges Gefühl, hier jetzt am helllichten Tag zu verweilen. Der Ort, an dem Sam Durandt gestorben war.
Die Stelle weckte schöne Erinnerungen. Es war einmal … das Lachen eines kleinen Jungen jagte die Sonnenstrahlen, schwirrte durch die frischen grünen Blätter, bevor es sich in seiner Erinnerung verlor. Es tat weh, daran zurückzudenken. Jeder Ausflug hierher, zurück zu ihr, zerriss sein Inneres. Eine Hälfte seines Wesens sehnte sich danach, mit ihr zusammen zu sein, die andere wusste, dass er sie alle schützen musste, indem er sich von ihnen fernhielt.
Er hatte schreckliche Angst davor, zu versagen. Denn es stand weit mehr auf dem Spiel als nur sein eigenes Leben.
»Daddy, geh nicht! Ich will nicht, dass du gehst«, hatte Josh gestern Abend gesagt und gegen die Tränen angekämpft. In den vergangenen zwei Jahren hatte er gründlich gelernt, dass Weinen nichts brachte. Dieser Gesichtsausdruck, wenn Josh versuchte, tapfer zu sein, brach Sam jedes Mal das Herz.
Er war in die Hocke gegangen, um seinem fünfjährigen Sohn in die Augen blicken zu können. Bei ihrer ungestümen Umarmung fiel ihm auf, wie dünn und schlaksig Josh nach dem Wachstumsschub im Frühjahr geworden war. Er atmete den Duft nach Johnsons Babyshampoo ein. Keine Tränen, wenigstens nicht durchs Haarewaschen. Josh war eigentlich zu alt für Babyshampoo, wusch sich inzwischen sogar schon selbst das Haar und duschte allein, aber der Geruch erinnerte Sam an Sarah und die schöne Zeit, als Josh noch ein Baby gewesen war – als sie noch alle zusammen gewesen waren.
Sam roch noch einmal an seinem Sohn und rang um Fassung. Josh wand sich in seinem Griff. »Daddy, du tust mir weh.«
»Oh, wirklich?«, fragte Sam und stand auf. Josh zog er mit hoch, bis er mit den Füßen in der Luft baumelte. »Und wie ist das?« Er hob Josh über seinen Kopf und prustete auf die nackte Stelle über dem Bund der Schlafanzughose. Prompt wurde er mit einem kichernden Jungen belohnt. Er warf Josh zurück auf sein Bett, ließ sich von ihm packen und niederringen, bis er ausgezählt war.
»Gewonnen!«, rief Josh. Dann ließ er seinen Vater los. Sam setzte sich neben ihn aufs Bett.
»Und wie, Champ«, sagte Sam, steckte Josh ins Bett, zog die Laken über ihn. Er gab ihm einen Kuss auf die Stirn. »Also, denk an alles, was wir besprochen haben! Und sei schön nett zu Frau Beaucours!«
Josh blickte mit ernster Miene zu ihm auf, der reife Gesichtsausdruck wollte so gar nicht zu einem kleinen Jungen passen. Er runzelte die Stirn und nickte. »Wenn du mit Mami nach Hause kommst, wirst du dann wieder lustige Lieder singen? Die zum Lachen, wie das mit Oscar, der lila Kröte mit der Warze auf der Zunge?«
»Noch besser, Mami soll dann singen. Sie hat eine Stimme wie ein Engel.«
Josh schloss fest die Augen, während er sich zu erinnern versuchte. »Manchmal denke ich, dass ich sie hören kann, wenn es dunkel und ganz ruhig ist.« Er riss die Augen wieder auf. »Aber dann wach ich auf, und es war nur ein Traum.«
Sam zerzauste seinem Sohn das noch feuchte Haar. »Ich weiß, was du meinst, Champ. Das geht mir auch so. Ich denke, das ist normal, wenn man einen Menschen liebt, der weit weg ist. So kann man sich demjenigen trotzdem nahe fühlen. Ich könnte wetten, dass Mami dich auch in ihren Träumen hört.«
»Aber ich war damals doch noch ein Baby. Ich konnte gar nicht richtig singen.«
»Spielt keine Rolle.«
»Meinst du wirklich, sie erinnert sich noch an mich? Wird sie mich wiedererkennen?« Jetzt sah Josh sorgenvoll aus.
»Selbstverständlich wird sie das.«
»Vielleicht hilft ja das hier.« Josh zog ein Passfoto unter seinem Kissen hervor. Sam nahm es feierlich in die Hand und hoffte, Josh würde die Tränen nicht bemerken, die er nicht hatte verdrängen können. Josh hatte das Foto in Herzform ausgeschnitten und auf roten Filz geklebt, an dessen Rückseite eine Sicherheitsnadel befestigt war. »Damit du ihr zeigen kannst, wie groß ich geworden
Weitere Kostenlose Bücher