Total Control (Das Labyrinth)
verblüffende Antwort. »Steven hat als Finanzanalyst bei Fidelity Mutual gearbeitet. Arthur war damals noch Präsident der Zentralbank New York. Ich selbst habe Steven bei einem Finanzsymposium kennengelernt. Viele meiner geschätzten Kollegen ergingen sich in wahren Lobeshymnen über Page. Er war ein unglaublich kluger, junger Mann mit wirklich interessanten Ansichten über die Finanzmärkte und zur Rolle der Bundeszentralbank in der ständig wachsenden Weltwirtschaft. Zudem war er leutselig, kultiviert, attraktiv und hatte als einer der besten seines College-Jahrganges graduiert. Ich wußte, daß Arthur ihn als willkommene Bereicherung seines intellektuellen Bekanntenkreises betrachten würde. Bald entwickelte sich eine Freundschaft zwischen Steven und Arthur.« Tiedman geriet ins Stocken.
»Eine Freundschaft, die letztlich in etwas anderes umschlug?« half Sawyer ihm auf die Sprünge.
Tiedman nickte.
»Wußten Sie zu dem Zeitpunkt, daß Lieberman homo- oder zumindest bisexuell veranlagt war?«
»Ich wußte, daß es in seiner Ehe kriselte. Aber damals wußte ich noch nicht, daß die Krise von Arthurs sexueller ... Verwirrung herrührte.«
»Anscheinend konnte er diese Verwirrung überwinden. Er ließ sich von seiner Frau scheiden.«
»Ich glaube kaum, daß die Scheidung von Arthur ausging. Meiner Meinung nach hätte er viel lieber zumindest den Anschein einer glücklichen Ehe gewahrt. Ich weiß, daß sich heutzutage immer mehr Menschen offiziell zu ihren Neigungen bekennen, aber Arthur war, was das betraf, ein äußerst zurückhaltender Mann. Darüber hinaus stellt die Finanzgemeinde einen höchst konservativen Kreis dar.«
»Also wollte seine Frau die Scheidung. Wußte sie über Page Bescheid?«
»Wer er war? Nein, das glaube ich nicht. Aber ich denke, sie wußte, daß Arthur eine Affäre hatte, und zwar mit keiner Frau. Deshalb verlief die Scheidung wohl auch so verbittert und einseitig. Arthur mußte rasch handeln, damit seine Frau ihren Anwälten gegenüber nicht einmal einen Verdacht äußerte. Es hat ihn jeden Cent gekostet, den er besaß. Arthur hat dieses zutiefst intime Geheimnis nur mir als langjährigem Freund anvertraut. Und ich erzähle es Ihnen nur unter demselben Siegel strikter Vertraulichkeit.«
»Ich weiß das zu schätzen, Charles«, erwiderte Sawyer. »Aber Sie müssen einsehen, daß ich jeder Möglichkeit nachgehen muß, um das Flugzeugattentat aufzuklären, sollte Lieberman der Grund dafür gewesen sein. Trotzdem kann ich Ihnen versprechen, daß ich die Information nicht verwenden werde, solange sie keinen unmittelbaren Einfluß auf die Ermittlungen hat. Sollte sich herausstellen, daß Liebermans Affäre in keinerlei Zusammenhang mit dem Verbrechen stand, wird von mir niemals jemand erfahren, was sie mir gerade enthüllt haben. Einverstanden?«
»Einverstanden«, stimmte Tiedman schließlich zu. »Danke.«
Sawyer bemerkte Tiedmans Erschöpfung und beschloß, rasch fortzufahren. »Sind Sie mit den Umständen von Steven Pages Tod vertraut?«
»Ich habe in der Zeitung darüber gelesen.«
»Wußten Sie, daß er HIV-positiv war?«
Tiedman schüttelte den Kopf.
Sawyer lehnte sich zurück. »Nur noch ein paar Fragen. Wußten Sie, daß Lieberman Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium hatte?« Tiedman nickte. »Wie war seine psychische Verfassung? War er am Boden zerstört? Verzweifelt?«
Tiedman antwortete nicht sofort. Schweigend saß er da, mit im Schoß gefalteten Händen. Nach einer Weile schaute er zu Sawyer auf. »Eigentlich wirkte Arthur eher froh.«
»Er war todkrank und wirkte froh?«
»Ich weiß, das klingt merkwürdig, aber anders kann ich es nicht beschreiben. Froh und erleichtert.«
Der verwirrte FBI-Agent dankte Tiedman und verabschiedete sich. Ein Haufen neuer Fragen schwirrte ihm im Kopf herum, und er hatte noch keine Ahnung, wo er die Antworten darauf finden sollte.
KAPITEL 49
Sidney saß allein im Speisewagen, während der Zug auf dem Weg nach New York geräuschvoll durch die Nacht rumpelte. Abwesend nippte sie an einer lasse Kaffee und kaute an einem im Mikrowellenherd aufgewärmten Muffin, während dunkle Bilder am Fenster vorbeizogen.
Das gleichmäßige Rattern der Zugräder und das sanfte Schaukeln des Waggons auf der vielbefahrenen Strecke nach Nordosten hatten eine beruhigende Wirkung. Beim Einsteigen in den Zug war sie noch auf der Hut gewesen und durch mehrere Waggons gegangen, bevor sie sich in einem niederließ.
Den Großteil der Reise kreisten
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