Total Control (Das Labyrinth)
Sidneys Gedanken um ihre Tochter. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, seit sie das kleine Mädchen zum letztenmal im Arm gehalten hatte. Und im Augenblick hatte sie keine Ahnung, wann sie Amy wiedersehen würde. Das einzige, was sie davon abhielt, zu ihr zu fahren, war die Gewißheit, daß sie ihre Tochter dadurch in Gefahr bringen würde. Niemals würde sie das tun, selbst wenn es bedeutete, Amy nie mehr wiederzusehen. Gleich nach der Ankunft in New York wollte sie zumindest anrufen.
Sidney überlegte, wie sie ihren Eltern den nächsten Alptraum beibringen sollte, der sie erwartete: Schlagzeilen, die ihre ehrgeizige, vielgeliebte Tochter als flüchtige Mörderin darstellten. Gar nichts konnte sie tun, um ihren Eltern die Flut der Aufmerksamkeit zu ersparen, die ihnen entgegenschwappen würde. Auch nach Bell Harbor, Maine, würde diese Aufmerksamkeit dringen, daran hegte Sidney keine Zweifel. Doch vielleicht gewannen ihre Eltern durch die Reise in den Norden zumindest ein paar wertvolle Tage abseits des grellen Rampenlichts.
Sidney wußte, daß sie nur eine einzige Chance hatte, die geheimnisvollen Umstände aufzuklären, die ihr Leben in eine Hölle verwandelt hatten. Und diese Chance stellten die Informationen in der Hartplastikhülle dar, die Federal Express schon bald als Eilsendung Richtung Norden transportieren würde. Die Diskette war alles, was sie hatte. Offenbar hielt Jason sie für ungemein wichtig. Und wenn er sich irrte? Schaudernd verbot sie sich, diesen möglichen Alptraum in Erwägung zu ziehen. Sie mußte ihrem Mann vertrauen.
Sidney schaute aus dem Fenster, wo verschwommene Bilder von Bäumen, bescheidenen Häusern mit Parabolantennen und zerfallenden, häßlichen Tuffsteingebäuden stillgelegter Firmen vorbeirasten. Sie zog den Mantel enger um sich und lehnte sich auf dem Sitz zurück.
Als der Zug in den düsteren Tunnel der Penn Station einrollte, stand Sidney bereits an der Tür. Es war fünf Uhr dreißig morgens. Obwohl sie sich nicht erinnern konnte, wann sie zuletzt geschlafen hatte, fühlte sie sich gar nicht müde.
Nach kurzem Warten am Taxistand beschloß sie, noch rasch einen Anruf zu tätigen, bevor sie zum Flughafen fuhr. Zuvor wollte sie ursprünglich die Waffe entsorgen, doch das kalte Metall vermittelte ihr ein Gefühl der Sicherheit, das sie im Augenblick dringend benötigte. Zwar wußte sie immer noch nicht, wohin sie reisen wollte, doch während der langen Fahrt zum Flughafen würde sie Gelegenheit haben, über einen Zielort nachzudenken.
Auf dem Weg zur Telefonzelle ergriff sie eine Ausgabe der Washington Post und überflog die Schlagzeilen. Noch kein Wort über die Morde. Dennoch konnten die Leichen bereits entdeckt worden sein, und die Reporter hatten nur nicht genug Zeit gehabt, die Berichte vor Redaktionsschluß fertigzustellen. Und wenn man ihre beiden früheren Kollegen noch nicht gefunden hatte, konnte es nicht mehr lange dauern. Für die Allgemeinheit öffnete die Parkgarage um sieben Uhr früh, Mieter hingegen hatten jederzeit Zugang zum Gebäude.
Sie wählte die Nummer ihrer Eltern in Bell Harbor. Begrüßt wurde sie von einer Tonbandstimme, die verkündete, daß unter dieser Nummer kein Anschluß vorhanden sei. Mit einem Stöhnen fiel ihr der Grund dafür ein. Über den Winter meldeten ihre Eltern das Telefon stets ab. Wahrscheinlich hatte ihr Vater vergessen, den Anschluß wieder einrichten zu lassen. Gewiß würde er das nachholen, sobald er in Maine ankam. Da dies noch nicht geschehen war, mußten ihre Eltern wohl noch unterwegs sein.
Rasch rechnete Sidney die Reisezeit nach. Als sie noch ein Kind gewesen war, war ihr Vater die etwa dreizehn Stunden lange Strecke durchgefahren und hatte nur angehalten, um zu tanken und zu essen. Doch mit zunehmendem Alter hatte seine Ungeduld nachgelassen. Seit er im Ruhestand war, übernachtete er regelmäßig unterwegs, wodurch er die Reise auf zwei Tage verteilte. Wenn ihre Eltern, wie geplant, gestern vormittag losgefahren waren, mußten sie heute nachmittag in Bell Harbor ankommen. Wenn sie wie geplant abgereist waren.
Mit einem Schlag wurde Sidney bewußt, daß sie die Abreise ihrer Eltern noch gar nicht überprüft hatte. Sie beschloß, dieses Versehen unverzüglich auszumerzen. Nach dreimaligem Läuten meldete sich der Anrufbeantworter. Nichtsdestotrotz sprach sie ins Telefon, damit ihre Eltern wußten, wer dran war, denn oft lauschten sie neben dem Anrufbeantworter. Trotzdem hob niemand ab. Sidney senkte den
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