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Total Recall

Total Recall

Titel: Total Recall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karlheinz Dürr (VS Mihr)
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Anscheinend war das Mädchen aus dem Nachbarhaus heimlich durch die Hintertür die Treppe hinauf in unsere Wohnung geschlichen, um das Glöckchen zu läuten, aber das fanden wir natürlich erst viel später heraus. Jedenfalls rasten Meinhard und ich sofort ins Wohnzimmer. Wir rannten und rempelten uns an und rutschten auf dem Teppich auf. Weihnachten war immer eine Riesenfreude.
    In Amerika machten wir kein großes Geheimnis um den Weihnachtsbaum. Das entsprach nicht der amerikanischen Tradition. In den USA ist es üblich, den Baum schon drei oder vier Wochen vor Weihnachten aufzustellen. Ich bestand nicht darauf, damit länger zu warten, denn die Kinder hätten mir dann ständig in den Ohren gelegen: »Wieso haben wir noch keinen Baum?« Und wir luden nach amerikanischem Brauch Freunde zum Baumschmücken ein, und jeder durfte dann irgendeinen Weihnachtsschmuck an den Baum hängen. Als unsere Kinder älter wurden, beteiligten sie sich immer mehr am Baumschmücken, bis sie schließlich sogar den Engel, den Stern oder Jesus oder Maria aufstellen durften, oder was auch immer der wichtigste Baumschmuck war. Dann wurde der Baum genau begutachtet und entschieden, ob man noch mehr Sachen aufhängen sollte, damit er noch schöner wurde.
    Auch die anderen Fest- und Feiertage waren für uns sehr wichtig. Zu Ostern besuchte uns immer meine Mutter. Jedes Jahr kam sie schon Mitte Februar und blieb dann zwei oder drei Monate bei uns, je nachdem, wie kalt und verschneit Österreich war. Sie wollte nämlich nicht nur bei uns sein, sondern auch dem österreichischen Winter entfliehen. Für Ostern hätte man sich keine bessere Oma wünschen können, denn alle großen Osterbräuche lassen sich auf diesen Teil Europas zurückführen: der Osterhase, die Eier, das Körbchen, die Schokoladen. Zusammen mit den Kindern färbte sie Ostereier, darin war sie wirklich Expertin. Die Kinder trugen Schürzen, und meine Mutter nahm die Küche in Beschlag und buk, rollte auf der Arbeitsplatte den Teig so dünn aus, dass niemand begreifen konnte, wie sie das machte, darauf legte sie die Apfelschnitze und faltete den Teig darüber und buk den köstlichsten Apfelstrudel in ganz Amerika. Am Ostersonntag feierten wir den ganzen Tag: Erst kamen die großen Osterkörbe und kleine Geschenke wurden ausgetauscht, dann gingen wir zur Kirche, danach begann die Ostereiersuche, gefolgt von einem Feiertagsessen, und am Nachmittag kamen Verwandte und Bekannte zu Besuch.
    Maria kümmerte sich wirklich rührend um meine Mutter. Die beiden kamen gut miteinander aus. Und ich genoss es immer, wenn Eunice und Sarge zu Besuch kamen. Wir hatten also nie Probleme mit unseren Schwiegereltern. Die Kinder nannten meine Mutter »Omi« und liebten sie, und sie verwöhnte die Kinder nach Strich und Faden. Im Laufe der Jahre hatte sie ein wenig Englisch gelernt, sie hatte auch ein paar Kurse besucht, sodass sie sich jetzt mit den Kindern unterhalten konnte, obwohl es wirklich nicht einfach ist, sich mit Kindern in einer Fremdsprache zu verständigen. Christina und meine Mutter waren besonders eng. Christinas zweiter Vorname ist auch Aurelia, der Name meiner Mutter.
    Meine Mutter verwöhnte sogar die Hunde. Conan und Strudel durften nicht ins Obergeschoss, aber wenn wir uns für die Nacht zurückzogen, schmuggelte sie meine Mutter in ihr Zimmer, und am nächsten Morgen entdeckten wir dann die Hunde zusammengerollt auf dem Teppich vor ihrem Bett. Sie war so oft in Los Angeles, dass sie sich sogar einen eigenen Freundeskreis aufbauen konnte. Meistens waren es andere Österreicher und europäische Journalisten, mit denen sie einkaufen oder zum Mittagessen ging oder sonst irgendwie die Zeit verbrachte. Ich vergesse nie, wie ich sie einmal bei einem Bankett beobachtete, ganz ins Gespräch vertieft mit den Müttern von Sophia Loren und Sylvester Stallone. Wahrscheinlich versicherten sie sich gegenseitig, dass wir unseren Erfolg nur ihnen zu verdanken hätten.
    Sie war sechsundsiebzig, als sie 1998 starb. Es war der 2. August, am Geburtstag meines Vaters, und wie immer war sie zum Friedhof gegangen, der auf einer Anhöhe direkt vor der Stadt lag, um ein wenig Zeit an seinem Grab zu verbringen. Dort führte sie immer stille Gespräche mit ihm, vielleicht eine Stunde lang, und erzählte ihm, was sie gemacht hatte, oder stellte ihm Fragen, so, als stünde er wirklich vor ihr. An diesem Tag war es heiß und drückend schwül, und der Weg zum Friedhof war steil. Ein paar Leute beobachteten,

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