Tote erinnern sich (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
müssen oder verrückt zu werden. Denn über meine Augenlider war keine Träne gekommen, seit …
Nun, ich ging und ging, ich weiß nicht, wie lang oder wie weit. Die Sterne waren heiß und rot und zornig und in jener Nacht verschafften sie mir keine Linderung. Zuerst wollte ich schreien und heulen, mich auf den Boden werfen und das Gras mit meinen Zähnen zerreißen. Dann ging es vorbei, und ich wanderte wie in Trance weiter. Kein Mond stand am Himmel, und im schwachen Licht der Sterne ragten dunkel und fremdartig die Berge und ihre Bäume vor mir auf. Über den Kuppen der Berge konnte ich den großen Atlantik liegen sehen, wie ein düsteres, silbernes Ungeheuer, und ich hörte sein schwaches Brüllen.
Etwas huschte vor mir vorbei, und ich dachte, es sei ein Wolf. Aber in Irland hat es seit vielen, vielen Jahren keine Wölfe mehr gegeben. Wieder sah ich das Ding, eine niedrige, lange, schattenhafte Kontur. Ich folgte ihm mechanisch. Jetzt sah ich vor mir eine Klippe über dem Meer. Auf der Klippe stand ein einzelner, mächtiger Baum, der wie ein Galgen aufragte. Ich trat näher heran.
Und dann, als ich mich dem Baum näherte, schwebte plötzlich undeutlich ein Nebel heran. Eine seltsame Furcht erfasste mich, während ich benommen hinsah. Jetzt zeichnete sich eine Gestalt ab. Undeutlich und seidig, wie ein Fetzen Mondnebel, aber von zweifellos menschlicher Gestalt. Ein Gesicht – ich schrie auf!
Ein süßes Gesicht schwebte verschwommen vor mir, undeutlich, nebelhaft – und doch konnte ich die schimmernde Masse dunklen Haars ausmachen, die hohe, reine Stirn, die roten geschwungenen Lippen – die ernsten, weichen, grauen Augen …
»Moira!«, schrie ich gequält auf und rannte auf sie zu, die schmerzenden Arme weit ausgebreitet, und das Herz barst in meinem Busen.
Sie schwebte von mir weg wie ein Nebel, den eine Brise erfasst hat; jetzt schien es, als würde sie im Nebel schwanken – ich spürte mich am äußersten Rand der Klippe taumelnd, wohin mein blinder Lauf mich geführt hatte. So wie man aus einem Traum erwacht, sah ich in einem blitzartigen Augenblick einhundertzwanzig Meter unter mir die schrecklichen Felsen, ich hörte das hungrige Klatschen der Brandung – als ich mich nach vorne fallen spürte, sah ich die Vision, aber jetzt veränderte sie sich auf entsetzliche Weise. Große, wie Hauer wirkende Zähne glänzten unheilvoll durch einen verfilzten schwarzen Bart, schreckliche Augen flammten unter vorspringenden Brauen; Blut floss aus einer Wunde in der Schulter und einem schrecklichen Stich in der breiten Brust –
»Dermod O’Connor!«, schrie ich und spürte, wie mir die Haare zu Berge standen. »Weiche von mir, Unhold aus der Hölle …«
Ich schwankte weiter und fiel – ein Fall, den ich nicht stoppen konnte, und einhundertzwanzig Meter unter mir wartete der Tod. Dann schloss sich eine weiche, kleine Hand um mein Handgelenk, und ich wurde unwiderstehlich zurückgezogen. Ich stürzte, aber nach hinten auf das weiche grüne Gras am Rand der Klippe, nicht auf die spitzen Felsen und die See, die unten auf mich warteten. Oh, ich wusste – ich konnte mich nicht irren. Die kleine Hand war von meinem Handgelenk verschwunden, ebenso das scheußliche Gesicht vom Klippenrand – aber jener Griff um mein Handgelenk, der mich vor dem Tode gerettet hatte – wie konnte ich den nicht erkennen? Tausendmal hatte ich die liebe Berührung jener weichen Hand an meinem Arm oder in der eigenen Hand gespürt. Oh, Moira, Moira, Puls meines Herzens, im Leben und im Tod warst du stets an meiner Seite.
Und jetzt weinte ich zum ersten Mal; das Gesicht in den Händen vergraben. Im Gras liegend schüttete ich mein gequältes Herz in heißen, blendenden, die Seele zerreißenden Tränen aus, bis die Sonne über den blauen Hügeln von Galway aufstieg und die Äste von Dermod’s Bane in einen eigenartigen Schimmer hüllte.
Hatte ich nun geträumt oder war ich wahnsinnig? Hatte mich wirklich der Geist jenes seit Langem toten Banditen über die Hügel zu der Klippe unter dem Todesbaum geführt und dort die Gestalt meiner verstorbenen Schwester angenommen, um mich in mein Verderben zu locken? Und hatte mich tatsächlich die wirkliche Hand jener toten Schwester, von der Gefahr, in der ich schwebte, plötzlich an ihre Seite geholt, vor dem Tode bewahrt?
Glauben Sie es oder glauben Sie es nicht, ganz wie Sie wollen. Für mich ist es eine Tatsache. Ich habe in jener Nacht Dermod O’Connor gesehen, und er hat mich über die
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