Tote essen kein Fast Food
heraus. „Hey, Miss Graffiti“, stand da in windschiefen Buchstaben, „habe heute schon den ganzen Strand nach dir abgesucht. Entweder bist du abgereist oder wegen Kindesmisshandlung eingebuchtet worden. Oder kannst du etwa bloß nichtschwimmen? Ich bringe es dir bei, wenn du magst. Seepferdchen-Grundkurs Montag bis Freitag von 14.00 bis 15.00 Uhr vor der …“ Dann war da nur noch der Rest einer Handynummer zu erkennen, die mit 0172 anfing. Sich die Unterschrift dazu zu denken, war kein Problem, aber viel brennender hätte mich interessiert, wie die Handynummer weiterging. Die Antwort darauf befand sich in der Tasche von Jans Badehose, was ziemlich sinnlos war, da er sie ja ohnehin kannte. Ich dagegen würde sie wohl nie zu sehen bekommen. Mist! Trotzdem hatte ich ein breites Grinsen im Gesicht, als ich auf einem Bein zur Tür hüpfte, um dann, das andere gerade nach vorne gestreckt, auf dem Po Stufe für Stufe Richtung Frühstück die Treppe hinunterzurutschen.
Was ich stattdessen eine Stunde später zu sehen bekam, das war ein Zeitungsartikel auf Seite 4 (tetra!) der Holsteinischen Post, mit der ich mir im Wartezimmer der Notaufnahme die Zeit vertrieb. Neben dem Foto einer unter ihrer Punkmähne trotzig in die Kamera blickenden 17-Jährigen mit Nasenpiercing standen zwei Spalten Text über die verschwundene Mia Sander. „Die Polizei schließt inzwischen ein Verbrechen nicht mehr aus“, lautete der letzte Satz.
Mir fiel die flapsige Vermisstenanzeige aus dem Bunker wieder ein, die ich in Gedanken für mich selbst aufgesetzt hatte. Vielleicht war Mia Sander nicht einfach nur von zu Hause abgehauen. Womöglich wurde sie irgendwo gefangen gehalten und fühlte sich so wie ich gestern. Nur dass ihr niemand half, da rauszukommen, wo sie war. Vielleicht hatte sie die Hoffnung, dass man sie finden würde, schon aufgegeben. Oder sie war bereits tot. Sie brauchte doch Medikamente. Was für welche, das hatte in dem Artikel nicht gestanden.
Ich musste an den Schuss denken, den ich in meinem Verlies unter der Erde gehört zu haben glaubte. Vielleicht sollte ich Martin ja doch … Aber wahrscheinlich würde er sich nur über meine „blühende Fantasie“ lustig machen.
Einmal Röntgen später wusste ich, dass ich mir weder etwas gebrochen noch gerissen hatte. „Das ist eine satte Bänderdehnung im Sprunggelenk“, sagte der junge Doktor mit dem spärlichen Haarwuchs, der das an eine helle Leuchttafel geklemmte Röntgenbild interpretierte. „Damit wirst du wohl eine Weile zu tun haben, aber alles in allem hast du noch Glück gehabt.“
Glück? Und wie fühlt sich dann Pech an?
Der orthopädische Dienst im Souterrain verpasste mir eine Art hautfarbenen Stützstrumpf mit zwei Gelpads rechts und links im Fußteil, und eine Viertelstunde darauf stand ich mit zwei blauen Krücken unter den Armen vor der Drehtür der Klinik und überlegte, wie ich jetzt mit den Dingern die Treppe hinunterkommen sollte. Verdammter Mist. So hatte ich mir die Ferien nicht vorgestellt. Und das Fechtturnier in sechs Wochen konnte ich wohl auch vergessen. Martin hätte sich sein Bunkerverbot schenken können. Das hier sah ziemlich nach selbst gemachtem Hausarrest aus.
„Alles Scheiße, deine Fanny“, schrieb ich an meine Mutter in Berlin, die wahrscheinlich gerade quietschvergnügt mit Benno-Bär im Café saß oder im Bett lag und sich jünger fühlte als ich mit meiner Gehhilfe. Auf der Vorderseite der Postkarte vom Klinikkiosk war eine fette weiße Möwe zu sehen, die konzentriert einem Seestern eines seiner fünf Beine ausriss. Oder Arme. Martin warf sie für mich in den Briefkasten am Ortsausgang und den Rest des Tages textete Fridamich zu Hause zu, bis sie die Lust an meiner Einsilbigkeit verlor und sich mit meinem Florett Richtung Boje trollte. Nun konnte ich mir wenigstens in Ruhe den Kopf zerbrechen über Martins Bunker-Story.
Von einem Labyrinth hatte er gesprochen. Damit konnte er nur meinen, dass die Bunker unter der Erde miteinander verbunden waren. Wie bei einem unterirdischen Kanalsystem. Womöglich waren die Dünen und die gesamte Insel von einem regelrechten Netz von unterirdischen Gängen durchzogen. Und irgendwo musste es einen offiziellen Eingang geben. Oder mehrere. Die Vorstellung ließ mir keine Ruhe, und da mein Fuß und ich ohnehin zum Stillhalten verdammt waren, beschloss ich, die Zwangspause zu nutzen und mich virtuell auf den Weg in die Sylter Unterwelt zu machen. Mithilfe dieses anderen Netzwerks, genannt World
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