Tote essen kein Fast Food
Geräuschen nicht um Halluzinationen gehandelt hatte, dessen war ich mir sicher. Todsicher.
„Muss einer von den alten Bunkern oder eine der Geschützbatterien sein, die über die ganze Westseite der Insel verteilt waren“, sagte Martin zu meiner Verblüffung, als sei es das Selbstverständlichste der Welt.
„Ein alter Bunker?“
„Ja. Die hat man im Zweiten Weltkrieg dort angelegt, weil man vermutete, über die Nordsee könne die Invasion der alliierten Streitkräfte erfolgen.“
Invasion? Alliierte Streitkräfte?
„Aber sie fand dann ja bekanntlich …“ – an der Stelle blickte er mich forschend über den Rand seiner Lesebrille an, in der Hoffnung, ein Zeichen dafür in meinen Augen zu erkennen, dass der Geschichtsunterricht nicht spurlos an mir vorbeigegangen war – „… am 6. Juni 1944 in der Normandie statt.“
„Ach so: D-Day.“
„Ja, so heißt das wohl in der anglo-amerikanischen Terminologie. Kennst du die aus irgendeinem Hollywood-Streifen oder gar aus einer ZDF-Dokumentation von Guido Knopp?“
„Der Soldat James Ryan“, antwortete ich. „Nicht von Guido Knopp, sondern von Steven Spielberg.“ Mit Grauen erinnerte ich mich an das entsetzliche Gemetzel am Strand unterhalb der nordfranzösischen Steilküste, das Spielberg so unerträglich authentisch in Szene gesetzt hatte. Ich hatte esauf Pro7 gesehen und war heilfroh gewesen, dass es keine Werbeunterbrechungen gab. Wie sollte man Cornflakes-Werbung ertragen, wenn fünf Sekunden zuvor tausende von jungen Männern in einem apokalyptischen Geschützhagel gefallen waren? Von einer morbiden Faszination aufs Sofa gefesselt, hatte ich trotzdem nicht abgeschaltet, bevor der Soldat James Ryan, der jüngste und einzige Überlebende von vier Brüdern, als alter Mann mit seiner Familie in die Normandie zurückgekehrt war und seinem Retter an dessen Grab die letzte Ehre erwiesen hatte.
„Und die sollte hier stattfinden, die Invasion? Auf Sylt?“
„Das war eine Vermutung der deutschen Heeresleitung, dass sie über die Nordsee stattfinden würde. Im Vergleich zu der bis zu dreißig Meter hohen Felsenküste der Normandie ist die Steilküste hier lächerlich niedrig. Und außerdem aus Sand. Eine alliierte Landung wäre viel einfacher gewesen. Aber das Gleiche haben sich wohl die Westalliierten gedacht und es vorgezogen, nicht das zu tun, was man von ihnen erwartete. Der Überraschungsangriff in Frankreich an dieser unwahrscheinlichen Stelle hat dann ja auch Erfolg gehabt, selbst wenn er mit dem Tod von weit über zehntausend Soldaten an einem einzigen Tag erkauft wurde.“
„Und wir liegen jetzt hier in der Sonne und lassen uns brutzeln – mit einer Batterie von Bunkern im Rücken.“
„Fast alle wurden in den 50er- und 60er-Jahren gesprengt oder sind inzwischen versandet. Heute dienen sie dem Küstenschutz. Ebenso wie die Tetrapoden aus Beton, die an verschiedenen Strandabschnitten aufgestapelt sind. Du kennst doch die Steinwälle im Meer vor Hörnum oder zwischen Westerland und Wenningstedt.“
„Das sind diese Dinger mit den vier dicken Betonarmen, die sich im Sand und miteinander verhaken, oder?“ Als Kind war ich mal mit meiner Cousine Nora zwischen denen herumgeklettert. Wer dabei mit den Füßen oder den Händen auf den Sand kam, hatte verloren.
„Richtig. Tetra ist das griechische 4 und podes ist lateinisch und bedeutet ‚Füße‘.“
Danach hatte ich gar nicht gefragt. Aber wenn Martin die Chance auf eine Lektion in Sachen Geschichte oder tote Sprachen bekam, ergriff er sie ebenso begeistert wie hemmungslos. „Sie dienen in erster Linie als Wellenbrecher und sollen die Wucht der Nordsee eindämmen, vor allem während der Herbst- und Frühjahrsstürme, wenn sie in die Steilufer beißt. Jedes von den Teilen wiegt sechs Tonnen.“
„Wie praktisch, dass die Bunker sowieso schon da waren.“
„Im Prinzip ja. Die gesamten Dünen sind unterbunkert. Vom Ellenbogen bis runter nach Hörnum. Bis in die 90er- Jahre hinein war der Ellenbogen sogar noch militärisches Sperrgebiet, weil dort Schießübungen stattfanden. Irgendwann nach der Wende hat das dann aufgehört und heute kannst du dort herumspazieren, als wäre es nie anders gewesen. Die meisten Touristen wissen nichts von den Bunkern. Und schon gar nicht, wo sie liegen.“
„Weißt du das denn?“
„Ein paar von ihnen kenne ich noch von früher. Da war noch nicht alles so streng geregelt auf der Insel.“
„Werden die Bunker heute noch benutzt? Ich meine, sind da
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