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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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nicht zu verstehen; daß es Masa war, stand außer Zweifel. Dies konnte nur eines bedeuten: Es gab einen ernstlichen Zwischenfall. Der Plan war in Gefahr.
    Im Nu war Fandorin auf den Beinen, griff nach seinen Kleidern – doch da gab es ein markerschütterndes Krachen, und die Tür zum Bassinraum flog mit gewaltigem Schlag aus denAngeln. Zwei Männer kamen in die Kabine gestürzt, ein ganzer Haufe drängte hinterher.
    Es brauchte keine ausgefeilte Chronometrie, um zu wissen: Kleider und Waffen durfte man vergessen, konnte froh sein, wenn einem die Zeit blieb, auf den Korridor zu gelangen.
    Posharski riß eine kleine doppelläufige Pistole unter der Zeitung hervor, schoß zweimal. Der vorderste der Eindringlinge warf die Hände über den Kopf, lief automatisch noch ein paar Schritte weiter, plumpste kopfüber in das Becken. Währenddessen schleuderte der Fürst die leergeschossene Waffe von sich und kam Fandorin mit verblüffender Behendigkeit hinterhergesprungen. Gleichzeitig landeten sie im Türrahmen, prallten mit den nackten Schultern zusammen. Putz und Splitter rieselten auf Fandorins Kopf – das kam von der Kugel, die über ihnen im Türbalken eingeschlagen war. Im nächsten Moment stolperten die beiden Untersuchungsführer hinaus auf den Korridor. Posharski rannte, ohne sich umzudrehen, nach rechts. Eine Flucht in diese Richtung schien Fandorin sinnlos: Der ursprüngliche Plan, von Ecke zu Ecke zu fliehen und sich dabei gegenseitig Feuerschutz zu geben, entfiel in Ermangelung von Waffen.
    Der Staatsrat stürzte also nach links, auf die Hintertreppe zu, obwohl er keine Ahnung hatte, wohin sie führte.
    Kaum hatte er die Hand am Geländer, spritzte der Putz von der Wand. Fandorin warf einen Blick zurück und sah, daß drei Männer hinter ihm her waren. Im nächsten Moment raste er treppauf – unten hatte er ein Gitter gesehen.
    Mit Riesensätzen, drei Stufen auf einmal nehmend, jagte er eine Etage höher – dort hing ein Schloß vor der Tür. In den nächsten beiden das gleiche.
    Unter ihm polterten eilige Schritte.
    Blieb noch ein Stockwerk. Auf dem obersten Absatz ließ sich vage eine Tür erkennen.
    Zu! Eisenriegel, Schloß davor.
    Fandorin packte das kalte Metallband mit beiden Händen und stellte sich vor, das Band wäre aus Papier – so, wie es die Lehre von der Macht des Geistes beschrieb. Er riß das lächerliche Riegelchen zu sich heran, das Schloß sprang ab und schepperte hell über die Steinstufen.
    Zu triumphieren blieb keine Zeit. Fandorin hetzte in den vor ihm liegenden dunklen Raum mit niedriger, schräger Decke hinein. Durch die kleinen Luken sah man auf ein leicht abschüssiges, matt im Mondlicht schimmerndes Dach.
    Noch eine Tür. Morsch, ohne Schloß. Ein Tritt genügte.
    Der Sonderbeauftragte rannte auf das Dach hinaus. Von der eisigen Luft stockte ihm der Atem. Doch die Kälte war nicht das Ärgste, nein. Ein flüchtiger Blick genügte, um zu begreifen: Von hier war kein Entkommen mehr.
    Fandorin lief nach vorn zur einen Dachkante, sah tief unter sich die Lichter der Straße, Menschen, Equipagen.
    Er rannte zur anderen Seite. Dort unten lag ein verschneiter Hof.
    Zu weiteren Erkundungsgängen blieb keine Zeit. Aus dem Dunkel der Bodenkammer lösten sich drei Schatten und rückten langsam auf den hilflos ausgelieferten, reglos am Rande des Abgrunds stehenden Mann zu.
    »Rennen können Sie schnell«, sprach ihn einer noch aus der Entfernung an, das Gesicht war nicht zu erkennen. »Jetzt wollen wir sehen, ob Sie auch fliegen können.«
    Fandorin kehrte den Schatten den Rücken zu. Sie anzusehen war so unnütz wie unangenehm. Er blickte nach unten.
    Fliegen?
    Er sah unter sich die nackte, fensterlose Mauer, den Schnee. Wäre wenigstens ein Baum gewesen – man hätte springen und versuchen können, Äste zu fassen zu kriegen.
    Fliegen?
    Als Gipfel der Meisterschaft galt im Clan der Ninja-Krieger, bei denen Fandorin die Kunst der Beherrschung von Geist und Körper studiert hatte, ein Trick, den man den Habichtflug nannte. Mehrfach hatte Fandorin Gelegenheit gehabt, die Zeichnungen in den alten Handschriften zu betrachten, auf denen die Technik dieses unglaublichen Kunststücks umfassend und bis in alle Einzelheiten dargestellt war. In jenen Zeiten, als die Fürstentümer im Land der aufgehenden Sonne einen Jahrhunderte währenden Krieg gegeneinander führten, standen die Ninjas im Ruf unübertrefflicher Kundschafter. An senkrechten Mauern emporzuklettern, in eine belagerte Festung

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