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Tote im Salonwagen

Tote im Salonwagen

Titel: Tote im Salonwagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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einzusteigen und dort die Wehranlagen auszuspionieren war für sie ein leichtes. Schwieriger konnte es sein, mit dem wertvollen Wissen zurückzugelangen. Die Zeit, eine Strickleiter oder auch nur eine Seidenschnur hinabzulassen, war einem Kundschafter nicht immer vergönnt. Für diesen Zweck nun war der Habichtflug gedacht.
    Und so stand es geschrieben: »Springe ohne Schwung, ruhig und gerade, der Abstand zwischen dir und der Wand betrage zwei Fuß, nicht mehr und nicht weniger. Halte den Körper in ideal senkrechter Linie. Zähle bis fünf, dann stoße dich heftig mit den Füßen von der Wand ab, drehe einmal in der Luft und lande, nicht ohne den Namen des heiligen Buddha Amida rezitiert zu haben.«
    Es hieß, die alten Meister hätten den Habichtflug voneinhundert Shaku 8 hohen Mauern vollzogen, was Fandorin kaum glauben konnte. Beim Zählen bis fünf legt der menschliche Körper nicht mehr als zehn, zwölf Meter zurück. Der sich anschließende Überschlag mochte die Härte der Landung zwar mildern, doch die Chancen, aus einer Höhe von über fünfzehn Metern heil unten anzukommen, standen selbst bei größtem Geschick und besonderer Gewogenheit des Buddha Amida nicht gut.
    Es war dies jedoch für skeptische Betrachtungen der ungeeignete Moment. Von hinten näherten sich bedächtige Schritte – zur Eile sahen die Herren Nihilisten wohl keinen Grund mehr.
    Wieviel Shaku sind es? versuchte Fandorin sich mit dem Gedanken anzufreunden. Höchstens fünfzig. Für einen Kundschafter des Mittelalters wohl ein Klacks.
    Darauf achtgebend, nur ja keinen Schwung zu nehmen, straffte Fandorin seinen Körper und tat den Schritt ins Leere.
    Das Gefühl zu fliegen fand Fandorin abscheulich. Der Magen unternahm den Versuch, zur Kehle herauszuspringen, während die Lungen sich totstellten, weder ein- noch auszuatmen imstande waren. Doch all dies spielte keine Rolle. Hauptsache: zählen.
    Bei fünf winkelte Fandorin die Beine an, stieß die Füße mit aller Kraft nach hinten und spürte an den Sohlen den sengenden Kontakt mit der harten Oberfläche, ehe er die nicht sehr schwierige Figur »Angreifender Drache« vollführte, die der europäische Zirkus unter der Bezeichnung Doppelsalto kennt.
    Namu Amida Butsu 9 , schaffte er es noch zu denken, dann sah und hörte er gar nichts mehr.
     
    Die Sinne kehrten wieder – wenn auch nicht alle. Er fror entsetzlich, bekam keine Luft, und zu sehen war immer noch nichts. Im ersten Moment meinte Fandorin voller Grausen, seiner letzten Rezitation wegen in jener Eishölle gelandet zu sein, wo dem Buddhismus zufolge allzeit Kälte und Finsternis herrschen. Allerdings wurde dort gewiß nicht russisch gesprochen – die dumpfen Stimmen aber, die von irgendwo himmelwärts zu ihm drangen, taten es.
    »Wo ist er denn? Siehst du ihn, Schwarz? Wie vom Erdboden verschluckt!«
    »Da vorne!« rief eine andere Stimme, jung und hell. »In der Schneewehe. Mensch, ist der weit geflogen!«
    Und erst da verstand Fandorin in seiner Benommenheit, daß er weder tot noch blind war. Sondern tatsächlich bäuchlings in einer tiefen Wehe lag, Augen, Mund und Nase voll Schnee – womit erklärt war, warum er nichts sah und nicht atmen konnte.
    »Hauen wir ab«, erklang es von oben. »Der hat ausgehaucht. Oder jedenfalls sämtliche Knochen gebrochen.«
    Worauf der Himmel verstummte.
    Sämtliche jedenfalls nicht! entschied der Staatsrat, nachdem es ihm gelungen war, auf alle viere zu kommen und schließlich gar auf die Füße.
    Vielleicht hatte ihm die Kunst der Ninjas das Leben gerettet, vielleicht auch die Anrufung des Buddha Amida. Am wahrscheinlichsten aber doch der zufällige Schneehaufen.
    Taumelnd überquerte er den Hof, schleppte sich durch den Hausflur hinaus auf die Straße – einem Schutzmann direkt in die Arme.
    »Du lieber Gott!« ächzte der, als er den schneeverklebtennackten Mann auf sich zukommen sah. »Vollkommen übergeschnappt, die Bande. Erst herumballern ohne Sinn und Verstand, jetzt auch noch nackig im Schnee baden. Das kostet dich eine Nacht auf der Wache, mein Freundchen!«
    Fandorin taumelte noch ein wenig näher, krallte die Hand in den Aufschlag des steifgefrorenen, reifbedeckten Uniformmantels und ging langsam in die Knie.

ZWÖLFTES KAPITEL
    Die Giraffen
    Der Umzug in ein neues Quartier erwies sich als schwierig. Die Polizeispitzel durchkämmten die Stadt mittlerweile so gründlich, daß bereits der Versuch, Sympathisanten um Hilfe anzusprechen, eine große Gefahr bedeutete: Man durfte bei

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