Tote im Salonwagen
Esfir japste vor Entrüstung. »Aha … Soso … Dann paß mal auf.« Sie griff nach einer auf dem Bett liegenden Zeitung. »Was ich gelesen habe, beim Warten auf dich.
Moskauer Nachrichten
! In ein und derselben Nummer, auf einer Doppelseite. Zuerst hier, dieses brechreizerregend unterwürfige Gesäusel:
Die Moskauer Stadtduma hat verfügt, Flügeladjutant Fürst Belosselski-Beloserski als dem Überbringer des Allergnädigsten Sendschreibens des Gottgesalbten an seine glücklichen Moskauer in Entgegnung ihrer untertänigsten Grußadresse, gewidmet dem Monarchen in Würdigung des bevorstehenden zehnten Jahrestages seiner Thronerhebung, zum Zeichen der Dankbarkeit einen Gedenkpokal zu stiften, der …
Puh, zum Kotzen ist das. Und gleich gegenüber, bitte schön, das:
Endlich hat das Bildungsministerium gehandelt und die strikte Einhaltung der Richtlinien zur Beschränkung der Universitätszulassung von Personen jüdischen Glaubens ohne Wohnrecht außerhalb des vorgeschriebenen Siedlungsrayons respektive eine Quotenlimitierung als Mindestmaßnahme angeordnet. Die Juden in Rußland – das wohl bedrückendste Erbteil, das uns vom nicht mehr existierenden Königreich Polen hinterblieben ist. Vier Millionen Juden halten sich im Imperium auf, was vier Prozent der Bevölkerung entspricht; der von diesem Geschwür ausgehende Pesthauch vergiftet unsere geheiligten …
Soll ich weiterlesen? Gefällt dir das? Oder hier:
Die getroffenen Maßnahmen zur Überwindung der Hungersnot in den vier Bezirken des Gouvernements Saratow haben bislang nicht zum gewünschten Ergebnis geführt. Vielmehr steht zu befürchten, daß die Katastrophe in den Frühjahrsmonaten auch auf die benachbarten Gouvernements übergreift. Seine Eminenz Aloisi, Erzbischof von Saratow und Samara, hat die Gemeinden zur Fürbitte um Abwendung dieses Unglücks angehalten.
Fürbitte! Daß euch die Plinsen nicht im Hals steckenbleiben!«
Hier hätte Fandorin, der mit Leidensmiene zuhörte, die Anklägerin am liebsten daran erinnert, wie eifrig auch sie gestern abend den fürstlichen Pfannkuchen zugesprochen hatte, was er sich jedoch verkniff. Es wäre kleinlich gewesen, und außerdem hatte sie in der Hauptsache recht.
Esfir las mit Ausdauer weiter.
»Komm, hör dir das an:
Rußlands Patrioten zeigen sich zutiefst empört über die Versuche zur Lettisierung der Volksschulen im Gouvernement Livland. Hier will man die Kinder zum Erlernen der eingeborenen Mundart nötigen und kürzt zu diesem Behufe die Anzahl der zum Studium von Gottes Geboten
vorgesehenen Stunden mit der Begründung, daß selbiges für nichtorthodox Gläubige nicht zwingend vonnöten sei.
Oder hier, eine Korrespondenz aus Warschau, vom Prozeß gegen den Kornett Bartaschow:
Das Gericht verweigerte sich der Anhörung von Aussagen der Zeugin Przemyska, insofern sie diese nicht auf russisch zu leisten gewillt war oder vorgab, dies nicht zu können.
Und das vor einem polnischen Gericht!«
Der letzte Auszug erinnerte Fandorin an jenen gekappten Faden in der Untersuchung: den toten Arseni Simin, dessen Vater ja in Warschau war, um den unglückseligen Kornett zu verteidigen. Der Gedanke daran ließ Fandorins Stimmung auf den Tiefpunkt sinken.
»Ja doch«, brummte er unwillig. »Es gibt nicht wenig Schurken und Schwachköpfe im Staatsapparat.«
»Es gibt nur sie. Fast ohne Ausnahme. Hingegen handelt es sich bei Revolutionären fast ausnahmslos um edle, heldenmütige Menschen«, konstatierte Esfir kurzerhand und fügte sarkastisch an: »Gibt dir dieser Umstand nicht irgendwie zu denken?«
»Das ist Rußlands ewig bittres Los«, erwiderte der Staatsrat traurig. »In ihm ist alles auf den Kopf gestellt. Schurken und Schwachköpfe haben das Gute zu verteidigen, während Märtyrer und Helden dem B-b-… Bösen dienen.«
Dies war nun wohl so ein Tag: In der Gendarmerieverwaltung beliebte man gleichfalls über Rußland zu reden.
Posharski hatte Swertschinskis verwaistes Kabinett bezogen, und der gesamte Ermittlungsstab war ihm dorthin gefolgt. Am pausenlos klingelnden Telefonapparat im Vorzimmer stand Oberleutnant Smoljaninow, bleicher als sonst und den Arm in einer eindrucksvollen schwarzen Schärpe.Über die Sprechmuschel hinweg lächelte er Fandorin zu und deutete auf die Tür zum Chefzimmer: Bitte einzutreten!
Der Fürst hatte bereits Besuch: Titularrat Subzow, mit roten Flecken im Gesicht und anscheinend sehr in Rage.
»Ah, Fandorin«, Posharski erhob sich und kam ihm entgegen. »Die Schatten
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