Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
versuchte, den Fahrer des Autos zu erkennen. Alles, was ich ausmachen konnte, war eine Silhouette. Sie wirkte ziemlich groß. War es ein Mann? Schwer zu sagen. Die Scheinwerfer waren so hell, daß ich nicht einmal den Wagen richtig sehen konnte.
Ich raste über die Rue Guy, bog nach links ab und fuhr über eine rote Ampel in meine Straße, wo ich sofort in der Tiefgarage verschwand.
Mit schweißnassen Händen wartete ich, bis sich das Garagentor geschlossen hatte, dann sprang ich aus dem Wagen und rannte mit dem Schlüssel in der Hand zur Tür. Beim Laufen lauschte ich auf Schritte, die mich verfolgten, aber ich hörte keine. Als ich durch die Lobby im Erdgeschoß hastete, warf ich einen Blick durch die Vorhänge nach draußen. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand ein Wagen mit angeschalteten Scheinwerfern, dessen Motor im Leerlauf vor sich hintuckerte. Der Fahrer war in der Dunkelheit vor der Morgendämmerung nur als schwarzes Profil auszumachen. War es der Wagen, der mich verfolgt hatte? Ich konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Hatte ich mir die Sache vielleicht nur eingebildet?
Dreißig Minuten später lag ich im Bett und sah zu, wie die Dunkelheit vor meinem Fenster sich von pechschwarz in dunkelgrau verwandelte. Birdie lag laut schnurrend zwischen meinen Kniekehlen. Ich war so müde gewesen, daß ich, ohne ins Bad zu gehen, nur aus meinen Kleidern geschlüpft und ins Bett gefallen war. Das ist völlig untypisch für mich. Normalerweise lege ich aufs Make-up-Entfernen und Zähneputzen allergrößten Wert. Heute nacht aber war mir beides egal.
20
Am Mittwoch kommt die Müllabfuhr, aber ich wachte weder vom Klappern der Tonnen noch von Birdies Miauen auf. Ich schlief so fest, daß ich auch nicht hörte, wie dreimal das Telefon klingelte.
Um viertel nach zehn wachte ich erschlagen und mit starken Kopfschmerzen auf. Nach solchen durchwachten Nächten merke ich, daß ich keine vierundzwanzig mehr bin. Sie fordern ihren Tribut, auch wenn ich es manchmal nicht wahrhaben will.
Meine Haut, meine Haare und sogar meine Bettwäsche rochen nach kaltem Rauch. Ich zog das Bett ab und steckte Laken und Bezüge zusammen mit den Kleidern, die ich in der vergangenen Nacht angehabt hatte, in die Waschmaschine. Dann ging ich unter die Dusche und seifte mich gründlich ab. Als ich am Frühstückstisch saß und gerade Erdnußbutter auf ein Croissant vom Vortag strich, klingelte das Telefon.
»Temperance?« Es war Pierre LaManche.
»Ja?«
»Ich habe versucht, Sie zu erreichen.«
Ich blickte hinüber zum Anrufbeantworter. Drei Nachrichten.
»Tut mir leid.«
» Oui. Kommen Sie heute ins Institut? Monsieur Ryan hat schon nach Ihnen gefragt.«
»In einer Stunde bin ich da.«
» Bon .«
Ich legte auf und hörte den Anrufbeantworter ab. Die Nachrichten waren von einem meiner Studenten und von LaManche. Der dritte Anrufer hatte aufgelegt. Nach Studienproblemen war mir nicht zumute, und so rief ich bei Gabby an, wo niemand abhob. Als nächstes wählte ich Katys Nummer, bekam aber nur den Anrufbeantworter an die Strippe.
»Sprechen Sir mir doch eine kurze Nachricht drauf«, zwitscherte die fröhliche Stimme meiner Tochter. Ich hinterließ eine Nachricht, die bei weitem weniger fröhlich klang.
Zwanzig Minuten später war ich im Institut. In meinem Büro angekommen, stopfte ich meine Handtasche in eine Schreibtischschublade, ignorierte die rosa Gesprächsnotizen auf der Schreibunterlage und fuhr hinunter in die Leichenhalle.
Alle Leichen, die in unserem Institut angeliefert werden, müssen sich erst einmal einer Aufnahmeprozedur unterziehen. Wenn diese abgeschlossen ist, erhalten sie eine Nummer und werden bis zur Obduktion in großen Kühlschränken zwischengelagert. An der Farbe des Fußbodens kann man erkennen, wer hier für was zuständig ist. Wo der rote Boden der dem Leichenbeschauer unterstehenden Leichenhalle aufhört, beginnen die Autopsieräume, die zum LML gehören. Auch ich obduziere hier unten meine Leichen, bevor ich die Knochen oben im Histologielabor für die weiteren Untersuchungen säubern lasse.
LaManche machte gerade bei einem kleinen Mädchen den ypsilonförmigen Obduktionsschnitt. Die Schultern des Kindes lagen auf einer Kopfstütze aus Gummi, und seine Hände waren abgespreizt, als wolle es gerade einen Engel in den Schnee zeichnen. Ich sah LaManche an.
» Secouée «, sagte er nur. Zu Tode geschüttelt.
Am nächsten Autopsietisch, an dem Nathalie Ayers arbeitete, hob Lisa gerade die
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