Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
darüber nachdachte, desto weniger glaube ich, daß Letzteres der Fall war. Denn eigentlich wollte ich etwas stärkeres zu Trinken haben als Tee. Allerdings beschreibt das Wort »wollen« diesen Zustand bei weitem nicht hinlänglich. »Danach gieren« käme dem wahren Sachverhalt schon näher. Und außerdem wollte ich nicht etwas, sondern viel. Eine ganze Flasche, die ich ganz allein austrinken durfte. Vergiß es, Brennan, sagte ich mir. Der Korken bleibt drin und damit basta.
Ich schlürfte meinen Tee und betrachtete Ryan. Er trug Jeans und ein Jeanshemd. Eine gute Kombination, denn das verwaschene Blau seiner Kleidung ließ die Farbe seiner Augen aufleuchten wie einen alten Film, der gerade frisch koloriert wurde. Kaum hatte er mit dem Telefonieren aufgehört, fing er auch schon wieder mit dem Herumtigern an.
»Das war’s dann wohl«, sagte er und warf das schnurlose Telefon auf das Sofa. Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, das unter seinen ungekämmten Haaren übernächtigt und müde wirkte. Na und, dachte ich. Ich sah vermutlich auch nicht gerade wie Claudia Schiffer aus.
Was war’s dann wohl? fragte ich mich.
»Ich bin froh, daß Sie gekommen sind«, sagte ich, obwohl ich mich schon mehrmals bei ihm entschuldigt hatte. »Tut mir leid, daß ich durchgedreht bin.«
»Das sind Sie doch gar nicht.«
»Normalerweise schreie ich nichts ins Telefon und –«
»Ist schon in Ordnung. Wir werden diesen Irren fassen, verlassen Sie sich drauf.«
»Ich hätte ja ganz einfach –«
Ryan blieb stehen, beugte sich zu mir herunter und stützte die Hände auf seine Knie. Die blauen Laserstrahlen aus seinen Augen blickten direkt in meine Pupillen. An einer seiner Wimpern hing ein gelbliches Körnchen, das mich an Blütenpollen erinnerte.
»Das ist eine verdammt ernste Sache, Brennan. Da draußen läuft ein hochgradig geistesgestörter, psychisch deformierter Kerl herum. Er ist wie die Ratten, die sich unter den Müllhaufen durchfressen oder in den Abwasserkanälen dieser Stadt herumwimmeln. Und er ist ein Killer, bei dem im Oberstübchen etwas mächtig durcheinandergeraten ist. Jetzt hat er auch noch Sie in seinen degenerierten Alptraum mit hineingenommen. Aber das war sein entscheidender Fehler. Wie Ungeziefer werden wir ihn ausräuchern und vernichten.«
Die Vehemenz seiner Antwort erstaunte mich so sehr, daß ich einen Augenblick sprachlos war. Aber es wäre ohnehin nicht der richtige Moment gewesen, um mit ihm über seine nicht ganz hasenreinen Metaphern zu debattieren.
Ryan faßte mein Schweigen offenbar als Skepsis auf.
»Ich meine es wirklich ernst, Brennan. Dieses Arschloch hat anscheinend nichts als Hundefutter im Hirn, und er hat es auf Sie abgesehen. Und deshalb müssen Ihre einsamen Eskapaden jetzt ein Ende haben.«
Es hätte weitaus weniger als dieser Bemerkung bedurft, um meine Stimmung in Gereiztheit umschlagen zu lassen. So ließ ich meinen ganzen Frust über meine Verletzbarkeit und Abhängigkeit an Ryan aus.
»Dann sind das also Eskapaden, was ich mache?« fauchte ich.
»Mist, Brennan, Sie wissen genau, daß ich damit nicht heute nacht gemeint habe.«
Wir wußten beide, was er gemeint hatte. Und er hatte auch noch recht damit, was wiederum meinen Ärger und meine Gereiztheit nur vergrößerte. Ich schwenkte den inzwischen kalten Tee in der Tasse herum und schwieg.
»Dieses Raubtier hat Ihre Fährte aufgenommen«, redete er weiter auf mich ein. »Er weiß, wo Sie wohnen. Und er weiß, wie er hineinkommt.«
»Er ist nicht hereingekommen.«
»Aber er hat Ihnen einen gottverdammten Schädel in den Garten gepflanzt!«
»Ich weiß!« schrie ich. Jetzt war es mit meiner Fassung endgültig vorbei.
Meine Blicke glitten hinüber zu der Ecke des Eßzimmers, in der still und reglos das Ding aus dem Garten lag. Es kam mir vor wie ein ausgegrabenes Objekt, das auf seine Säuberung und Katalogisierung wartet. Es hätte alles mögliche sein können. Ein Volleyball. Ein Globus. Eine Melone. In seinem braunen Müllsack, der wiederum in Ryans durchsichtigem Plastikbeutel steckte, sah es ganz harmlos aus.
Als ich den Sack so ansah, stiegen in mir die Erinnerungen an seinen grausigen Inhalt auf. Ich sah den Schädel wieder, wie er auf seinem dünnen, aus einem Holzpflock bestehenden Hals thronte. Ich sah die leeren Augenhöhlen, die streng geradeaus starrten und das leicht rötliche Blinken der Zähne in seinem weit geöffneten Mund. Und ich stellte mir vor, wie der Eindringling das Schloß am Gartentor
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