Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Schwierigkeiten geraten, vielleicht wird er aber auch einfach immer frecher. Darauf würde auch der Schädel in deinem Garten hinweisen. Mit dem wollte er dir eine Botschaft zukommen lassen oder sich über dich lustig machen. Es wäre sogar möglich, daß er es darauf anlegt, gefaßt zu werden. Was mir an der Sache ganz und gar nicht gefällt, ist die Tatsache, daß es dabei um dich persönlich geht. Dein Bild in seinem Versteck, der Schädel in deinem Garten. Das alles sagt mir, daß er es nicht dabei belassen wird, sich über dich lustig zu machen.«
Ich erzählte ihm von der Nacht auf dem Klostergelände und dem Wagen, der mich verfolgt hatte.
»Gott im Himmel, Tempe, wenn dieser Kerl wirklich hinter dir her ist, darfst du keine Spiele mit ihm spielen. Er ist verdammt gefährlich. Denk daran, was ich dir vorhin erzählt habe. Vermutlich hast du ihn dort draußen überrascht, so daß er nicht darauf vorbereitet war, auf seine ganz spezielle Art zu töten. Er war nicht Herr der Lage. Vielleicht hatte er die Sachen nicht dabei, die er zum Töten braucht. Vielleicht hat ihn der Umstand, daß du bewußtlos warst, um das Gefühl gebracht, das er beim Anblick seiner verängstigten Opfer bekommt.«
»Du meinst, er hatte keine Gelegenheit, um sein Todesritual durchzuführen.«
»Genau.«
Wir plauderten noch eine Weile über alte Freunde und alte Zeiten, in denen wir uns noch nicht mit Morden befaßt hatten. Als wir schließlich auflegten, war es schon nach acht.
Ich lehnte mich auf dem Sofa zurück, streckte alle Viere von mir und entspannte mich. Eine ganze Weile lag ich so da wie eine Stoffpuppe und dachte an vergangene Zeiten. Schließlich war es mein Hunger, der mich aufstehen ließ. Ich ging in die Küche, wärmte mir eine gefrorene Lasagne auf und zwang mich dazu, sie zu essen. Danach setzte ich mich hin und arbeitete eine Stunde lang daran, aus meinen Notizen das zu rekonstruieren, was J. S. mir gesagt hatte.
Besonders seine Abschiedsworte wollten mir nicht mehr aus dem Gedächtnis.
»Die Abstände zwischen den Morden werden immer kürzer.«
Das war mir bewußt.
»Er erhöht seinen Einsatz.«
Das wußte ich ebenfalls.
»Möglicherweise hat er jetzt dich im Visier.«
Um zehn Uhr ging ich ins Bett. Ich lag in der Dunkelheit und starrte an die Decke. Ich fühlte mich allein und bemitleidete mich selbst. Warum mußte ich die Bürde all dieser toten Frauen tragen? Warum hatte mich ein Psychopath zum Mittelpunkt seiner perversen Phantasien gemacht? Warum nahm mich bei der Polizei niemand ernst? Und warum wurde ich immer älter, während ich aufgetaute Lasagne vor dem Fernseher aß, ohne die Sendungen richtig anzusehen? Als Birdie sich auf meine Knie legte, trieb mir diese sanfte Berührung die Tränen in die Augen, die ich seit meinem Gespräch mit J. S. zurückgehalten hatte. Ich weinte in das Kissen hinein, das Pete und ich in Charlotte gekauft hatten. Genauer gesagt, das ich gekauft hatte, während er ungeduldig von einem Fuß auf den anderen getreten war.
Warum war unsere Ehe gescheitert? Warum lag ich jetzt allein im Bett? Warum war Katy so unzufrieden? Warum hatte sich meine beste Freundin schon wieder so unfair verhalten? Wo war sie? Nein, daran wollte ich nicht denken. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich wach lag, an die Leere in meinem Leben dachte und hoffte, daß Gabby endlich nach Hause kommen würde.
29
Am nächsten Morgen erzählte ich Ryan, was bei meinem Telefongespräch mit J. S. herausgekommen war. Danach verging eine ganze Woche, in der nichts geschah.
Das Wetter blieb heiß. Tagsüber untersuchte ich Knochen. Die Überreste eines seit neun Jahren vermißten Touristen zum Beispiel, die man in einem Komposthaufen in Cancún gefunden hatte. Oder die von Hunden ausgegrabenen Überreste eines mit einem stumpfen Gegenstand erschlagenen Mädchens und einen Kadaver in einer Kiste, dem man die Hände abgeschnitten und das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zertrümmert hatte. Ich konnte lediglich feststellen, daß es sich um einen männlichen Weißen handelte, der zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt gewesen war.
An den Abenden besuchte ich öfters das Jazzfestival, das gerade in der Innenstadt stattfand. Ich stand zwischen der Rue Ste. Catherine und der Rue Jeanne Mance in einer verschwitzten Menge und hörte das Konzert einer peruanischen Band, deren Holzinstrumente wie Geräusche aus dem Regenwald klangen. Ich wanderte vom Place des Arts zum Complèxe Desjardins und genoß den Klang
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