Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
beeindruckendes Straßensystem gebaut hatten; an Pharao Seti, der seinen Nachkommen den Thron nicht überlassen wollte; an Hannibals Alpenüberquerung – alles nur, um mir nicht vorstellen zu müssen, was jetzt wohl in einem Zimmer da drüben im Hotel St. Vitus geschah. Hoffentlich war der Bursche wenigstens einer von der schnellen Truppe.
Kein Lüftchen wehte durch meine Gasse, und die Ziegelwände strahlten die Hitze aus, die sie den ganzen Tag über in sich aufgesogen hatten. Der Schweiß klebte mir das T-Shirt an die Haut und die Haare an den Kopf. Ab und zu löste sich ein Tropfen davon und lief mir über die Stirn oder den Nacken hinunter.
Die Hitze, der Gestank und die Enge begannen, mir Probleme zu bereiten. Ich spürte einen dumpfen Schmerz zwischen meinen Augen, und mein Mageninhalt fing an, nach oben zu drängen. Ich ging in die Hocke und überlegte mir, wie lange ich es hier wohl noch aushalten würde.
Als ich aufsah, stand ein dunkler Schatten vor mir. Ein Mann! Meine Gedanken rasten in verschiedene Richtungen. War der Durchgang hinter mir frei? Ich hatte mir nicht einmal einen Fluchtweg überlegt! Wie idiotisch!
Der Mann kam auf mich zu und fummelte dabei an seiner Hose herum. Ich blickte mich um und sah nichts außer pechschwarzer Finsternis. Ich saß in der Falle!
Was dann folgte, war ein gutes Beispiel für Aktion und Reaktion. Ich fuhr hoch und stolperte auf halb eingeschlafenen Beinen ein paar Schritte zurück. Der Mann tat es mir sofort nach. Im schwachen Licht von der Straße her konnte ich ein Pferdegebiß und weit aufgerissene Augen erkennen. Der Mann hatte ein asiatisches Gesicht und schien mindestens genauso erschrocken zu sein wie ich.
Ich drückte mich mit dem Rücken an die Wand und suchte gleichermaßen nach einem Halt wie nach Deckung. Der Mann glotzte mich eine Weile verdattert an und schüttelte schließlich benommen den Kopf. Dann steckte er die Hemdzipfel in den Gürtel, machte den Hosenschlitz zu und ging.
Eine ganze Weile stand ich schwer atmend an der Hauswand und wartete darauf, daß sich mein Herzschlag wieder halbwegs normalisierte.
Es war ein Penner, der in den Durchgang pinkeln wollte, sagte ich mir.
Was aber, wenn es nun St. Jacques gewesen wäre?
Aber er war es nicht.
Du hast dich nicht um einen Fluchtweg gekümmert. Das war wirklich dumm von dir. Die nächste Dummheit bezahlst du vielleicht mit dem Leben.
Aber es war doch nur ein Penner.
Trotzdem. Fahr heim. J. S. hatte ganz recht. Überlaß die Sache der Polizei.
Aber die kümmert sich nicht drum.
Das ist nicht dein Problem.
Aber Gabbys.
Vielleicht ist sie ja irgendwohin in Ferien gefahren.
Das glaubst du doch selber nicht.
Langsam beruhigte ich mich wieder so weit, daß ich meine Beobachtung des Hauses fortsetzen konnte. Als ich weiter über St. Veit nachdachte, fiel mir endlich ein, welche Krankheit nach ihm benannt worden war. Es war der Veitstanz, der im 16. Jahrhundert ziemlich weit verbreitet war. Dabei wurden die Menschen immer nervöser und gereizter, bis schließlich ihre Glieder unkontrolliert zu zucken anfingen. Man dachte damals, es sei eine Art Hysterie und machte eine Wallfahrt zum Heiligen Veit, um von diesem Genesung zu erflehen. In Wirklichkeit wurde die Krankheit vom Mutterkorn im Getreide verursacht. Und was war das mit dem St.-Veit-Feuer? Aber halt, das hieß ja St.-Elms-Feuer und hatte irgendwas mit magnetischen Entladungen zu tun. Ob man davon vielleicht auch Anfälle bekam?
Um mir die Zeit zu vertreiben, dachte ich mir Städte aus, die ich gerne einmal besuchen würde. Und zwar in alphabetischer Reihenfolge. Abilene. Bangkok. Chittagong. Dieser Name hatte es mir besonders angetan. Chittagong. Vielleicht würde ich ja wirklich eines Tages nach Bangladesh fliegen und mir die Stadt ansehen. Ich überlegte mir gerade einen Ort mit D, als Julie aus dem St. Vitus kam und ruhigen Schrittes den Gehsteig entlang ging. Ich blieb in meinem Durchgang und folgte ihr nicht. Meine Zielperson war jetzt eine andere.
Ich mußte nicht lange warten, denn auch der Mann im Sweatshirt kam bald nach Julie aus dem Haus.
Ich gab ihm einen halben Block Vorsprung und nahm dann die Verfolgung auf. Der Mann huschte mit eingezogenen Schultern, gesenktem Kopf und an die Brust gepreßter Papiertüte die Straße entlang und erinnerte mich mit seinen Bewegungen an die Ratte, die auf meinem letzten Beobachtungsposten aus dem Müll gekrochen war. Während ich ihn verfolgte, verglich ich seine Gestalt mit der, die
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