Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
hatte ich tatsächlich erreicht? Ich wußte jetzt, wo Julies Unterwäsche-Freak wohnte. Zumindest vermutete ich, daß er es war, denn heute war Donnerstag. Aber was brachte mir das? Es konnte gut sein, daß er nicht das geringste mit den Morden zu tun hatte.
Irgendwie kam mir das jedoch nicht sehr wahrscheinlich vor. Aber warum nicht? Warum glaubte ich, daß dieser Kerl Dreck am Stecken hatte? Warum glaubte ich, daß es meine Aufgabe war, ihn zur Strecke zu bringen? War es, weil ich Angst um Gabby hatte? Julie hatte er immerhin nichts angetan.
Nach der Dusche war ich noch viel zu aufgekratzt, um einschlafen zu können. Also holte ich ein Stück Brie und eine Ecke Tomme de chèvre de Savoie aus dem Kühlschrank und goß mir ein Glas Ginger Ale ein. Dann legte ich mich in eine Decke gewickelt aufs Sofa und schälte eine Orange, die ich zusammen mit dem Käse verspeiste. Im Fernsehen quasselte David Letterman, aber mein Interesse an der Show war nur mäßig. Bald war ich wieder in meine eigenen Gedanken verstrickt.
Warum, so fragte ich mich, hatte ich vier Stunden zwischen Spinnen und Ratten verbracht, nur um einem Mann hinterherzuspionieren, der gerne Nutten im Nachthemd sah? Warum hatte ich diese Arbeit nicht der Polizei überlassen?
Immer wieder kam ich auf diese Frage zurück: Warum hatte ich nicht einfach Ryan erzählt, was ich wußte, und es ihm überlassen, den Burschen dingfest zu machen?
Vielleicht deshalb, weil es mich persönlich etwas anging. Aber nicht auf die Art und Weise, wie ich mir einzureden versuchte. Es ging nicht nur um einen Schädel in meinem Garten, um einen Angriff auf meine oder Gabbys Sicherheit. Es war etwas anderes, etwas sehr viel Tiefergehendes und Besorgniserregenderes, was mich wie eine Besessene diese Fälle untersuchen ließ. Ich brauchte eine Stunde, bis ich es eingesehen hatte.
Ich machte mir in letzter Zeit zunehmend selber Angst: Immer wieder wurden Frauen von Männern umgebracht und in den Fluß, den Wald oder auf eine Müllkippe geworfen. Kinder wurden mit gebrochenen Knochen in Schachteln, Plastiktüten oder Abflußrohren gefunden. Tag für Tag säuberte, sortierte und untersuchte ich ihre Knochen. Ich schrieb Berichte. Sagte vor Gericht aus. Und meistens fühlte ich nicht viel dabei. Ohne eine gewisse Distanz war dieser Beruf nicht zu schaffen. Ich hatte so oft und so nahe mit dem Tod zu tun, daß ich Angst hatte, seine wahre Bedeutung zu vergessen. Ich wußte, daß ich nicht um jeden Menschen trauern konnte, dessen Knochen ich gerade sortierte. Wenn ich das täte, wäre mein Reservoir an Emotionen in kürzester Zeit aufgebraucht. Es war notwendig, einen bestimmten professionellen Abstand zu wahren, aber der durfte nicht so groß sein, daß man überhaupt nichts mehr fühlte.
Die ermordeten Frauen hatten in mir etwas ausgelöst. Immer wieder durchlebte ich ihre Angst, ihre Schmerzen und ihre Hilflosigkeit einem wahnsinnigen Mörder gegenüber. Und immer wieder fühlte ich Wut und Empörung und ein starkes Verlangen, das Monstrum zur Strecke zu bringen, das diese Frauen abgeschlachtet hatte. Vielleicht waren mir diese Opfer deshalb nicht egal, weil meine Reaktion auf ihr Sterben eine Art Rettungsring für meine eigenen Gefühle, für meine Menschlichkeit und für meine Lebenslust darstellte. Ich fühlte, und ich war dankbar dafür, daß ich noch fühlen konnte.
Auf diese Weise gingen mich die Fälle persönlich an. Und deshalb konnte ich auch nicht aufgeben. Deshalb hatte ich nachts das alte Klostergelände und die Bars und Nebengassen der Main durchstreift. Jetzt würde ich Ryan davon überzeugen, daß er der Sache nachging. Ich mußte wissen, wer Julies Freier war. Und ich mußte Gabby finden. Vielleicht war das alles ja wirklich miteinander verknüpft. Vielleicht auch nicht, aber das war egal. Ich würde den mordlustigen Bastard finden, auf welchem Wege auch immer. Und dann würde ich dafür sorgen, daß er nie wieder einer Frau etwas zuleide tun konnte.
33
Die Fahndung in die Gänge zu bringen war dann doch schwieriger, als ich gedacht hatte. Teilweise lag das an mir selbst.
Gegen halb sechs Uhr am Freitag nachmittag litt ich unter hämmernden Kopfschmerzen und einem Magen, der nach ungezählten Tassen Kaffee aus dem Automaten völlig durcheinander war. Stundenlang hatten wir über die Mordfälle diskutiert. Weil niemand etwas Neues herausgefunden hatte, gingen wir dieselben Dinge wieder und immer wieder durch und schaufelten uns durch Berge von Informationen auf
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