Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
mehr gegen ihn in der Hand haben, können wir ihn ohnehin nicht festnehmen«, sagte er und wandte sich an Charbonneau. »Michel?«
Charbonneau nickte. Wir besprachen noch ein paar andere Punkte, dann löste sich die Runde auf.
Oft habe ich seither an diese Besprechung zurückgedacht und mich immer wieder gefragt, ob ich durch mein Verhalten damals den Lauf der Dinge falsch beeinflußt hatte. Warum hatte ich nicht Zeter und Mordio geschrien wegen Gabby? Hatte Claudels eiskalter Blick meinen Entschluß rückgängig gemacht? Hatte ich den Impetus der Nacht zuvor auf dem Altar der professionellen Vorsicht geopfert? Hatte ich Gabbys Leben aufs Spiel gesetzt, nur um vor Claudel nicht als unprofessionell dazustehen? Hätte eine noch an diesem Tag eingeleitete Großfahndung irgendeinen Unterschied gemacht?
An diesem Abend fuhr ich nach Hause und taute ein Hacksteack auf. Als die Mikrowelle piepste, holte ich das Tablett heraus und entfernte die Folie.
Ich blieb einen Augenblick stehen, betrachtete die Soße auf dem Kartoffelbrei und spürte, wie meine Einsamkeit und meine Frustration ihre Instrumente stimmten. Ich konnte dieses Zeug jetzt essen und mich mit meiner Katze einen weiteren Abend lang vor den Fernseher hocken, öde Talkshows anglotzen und dabei mit den Dämonen in meinem Inneren kämpfen. Ich konnte den Abend aber auch selbst gestalten, mich zu seiner Dirigentin machen.
»Scheiß auf das Fernsehen. Maestra…?«
Ich warf das Fertiggericht in den Müll und ging zu Chez Katsura in der Rue de la Montagne, wo ich mir einen Teller Sushi gönnte und mich von einem Glückwunschkartenvertreter aus Sudbury in ein belangloses Gespräch verwickeln ließ. Nachdem ich seine Einladung auf einen Drink ausgeschlagen hatte, ging ich ins Le Faubourg-Einkaufszentrum, wo ich mir die Spätvorstellung von König der Löwen ansah.
Es war zwanzig vor elf, als ich das Kino verließ und mit der Rolltreppe wieder zur Hauptebene hinauffuhr. Das kleine Einkaufszentrum war größtenteils verlassen, und die meisten Geschäfte und Stände hatten geschlossen. Ich ging an der Beigelbäckerei, am Stand mit dem gefrorenen Joghurt und dem japanischen Takeaway vorbei, deren Regale und Verkaufstheken leergeräumt und mit abschließbaren Gittern gesichert waren. Im Metzgerladen hingen Messer und Sägen in Reih und Glied an der Wand.
Der Film war genau das gewesen, was ich gebraucht hatte. Singende Hyänen, afrikanische Rhythmen und ein süßes Löwenbaby hatten mich zwei Stunden lang die Morde vergessen lassen.
Gut dirigiert, Brennan. Hakuna Matata.
Es war immer noch heiß, und es herrschte eine hohe Luftfeuchtigkeit. Die Straßenlaternen hatten einen Hof aus Dunst, und Dampf stieg vom Gehsteig auf wie aus einer heißen Badewanne in einer kalten Winternacht.
Als ich auf meine Wohnungstür zuging, sah ich, daß ein Briefumschlag zwischen Türstock und Messingknopf steckte. Zuerst dachte ich, daß es eine Mitteilung von Winston sei. Vielleicht wollte er etwas reparieren und mußte dafür den Strom oder das Wasser abstellen. Aber das konnte nicht sein. Winston würde einen Anschlag am Schwarzen Brett machen, damit alle Mieter ihn lesen konnten. Aber was war es dann? Eine Beschwerde über Birdie? Eine Nachricht von Gabby?
Es war keines von beiden. Genaugenommen war es nicht einmal eine Nachricht. Der Umschlag enthielt zwei Gegenstände, die eine Minute später stumm und grauenerregend vor mir auf dem Tisch lagen. Ich starrte sie mit klopfendem Herzen und zitternden Händen an, und obwohl ich genau wußte, was sie zu bedeuten hatten, wollte ich es nicht wahrhaben.
In dem Umschlag war ein scheckkartengroßer, in Plastik eingeschweißter Personalausweis, auf dessen linker Seite unterhalb eines roten Sonnenuntergangs in erhabenen, weißen Buchstaben Gabbys Name, Geburtsdatum und numéro d’assurance maladie standen. Rechts davon war Gabbys Gesicht mit den Rastalocken und silbernen Ringen an beiden Ohren zu sehen.
Der zweite Gegenstand war ein Quadrat mit fünf Zentimetern Seitenlänge, das jemand aus einem Stadtplan geschnitten hatte. Es war ein französischsprachiger Stadtplan und zeigte Straßen und Grünflächen in den mir nur allzu bekannten Farben. Ich suchte nach markanten Punkten und Straßennamen, um mich orientieren zu können. Rue Ste. Hélène. Rue Beazchamp. Rue Champlain. Die Straßen kannte ich alle nicht. Sie hätten in Montreal, aber ebensogut in einem Dutzend anderer Städte sein können. Ich lebte noch nicht lange genug in
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