Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
gefahren?« fragte Ryan. »Machen Sie jetzt auf Psychologin?«
»Sehen Sie sich das doch nur einmal an.«
Sie kamen zu mir ans Regal.
»Hier ist alles alphabetisch nach Sachgebieten geordnet«, sagte ich und deutete auf die Reihen der Bücher. »Innerhalb der Sachgebiete wiederum nach Autoren, und bei den Autoren nach Erscheinungsdatum der einzelnen Bücher.«
»Macht das nicht jeder so?« fragte Bertrand.
Ryan und ich sahen ihn an. Bertrand war kein belesener Mensch.
»Sehen Sie nur, wie jedes Buch genau nach der Kante des Regals ausgerichtet ist«, sagte ich.
»Dasselbe macht er auch mit seinen Socken und Unterhosen. Für die muß er einen rechten Winkel zum Zusammenfalten haben«, bemerkte Ryan.
Ich sah ihn an, und er las meine Gedanken.
»Paßt ins Profil.«
»Vielleicht hat er die Bücher ja nur zur Schau. Vielleicht will er, daß seine Freunde ihn für einen Intellektuellen halten«, meinte Bertrand.
»Das glaube ich nicht«, sagte ich. »Sehen Sie sich die kleinen gelben Zettel an, die aus manchen Bänden herausschauen. Der liest die Bücher nicht nur, er markiert sich auch bestimmte Stellen. Wir sollten Gilbert und seine Leute darauf aufmerksam machen, daß sie die Markierungen drinnenlassen. Möglicherweise könnten sie sich als nützlich erweisen.«
»Ich werde es ihnen sagen.«
»Dieses Regal sagt uns aber noch etwas anderes über Monsieur Tanguay«, meinte ich. Die beiden schauten auf die Bücher.
»Er liest ziemlich seltsames Zeug«, bemerkte Bertrand.
»Aber was interessiert ihn außer Kriminalromanen am meisten?« fragte ich. »Sehen Sie sich doch mal das oberste Brett an.«
Sie blickten nach oben.
»Ach du Scheiße«, sagte Ryan. » Grays Anatomie, Cunninghams Handbuch der praktischen Anatomie. Farbatlas zur Anatomie des Menschen. Handbuch für anatomisches Sezieren. Medizinischer Bildatlas des menschlichen Körpers. Großer Gott, ist das denn zu fassen? Sehen Sie sich das hier an: Sabistons Grundzüge der Chirurgie. Der Kerl hat ja bald mehr von dem Zeug als die Bibliothek einer Universitätsklinik.«
»Ja, aber er begnügt sich nicht bloß mit der Theorie. Dieser Mistkerl setzt sein Wissen auch in die Praxis um.«
Ryan griff nach seinem Funkgerät. »Ich hole jetzt Gilbert und sein Rollkommando herauf. Und die anderen sollen wieder auf ihre Beobachtungsposten gehen und warten, bis unser Doktor Mabuse nach Hause kommt. Und zwar unauffällig, wir wollen ihn schließlich nicht vorwarnen. Claudel hockt da unten bestimmt schon wie auf Kohlen.«
Während Ryan seine Instruktionen gab, sah Bertrand immer noch die Titel der Bücher im Regal durch.
Bzzzzz. Bzzz.
»Hey, da ist ja was für Sie«, sagte er und nahm mit seinem Taschentuch ein Buch aus dem Regal. Es war eine Ausgabe des American Anthropolist vom Juli 1993. Ich mußte sie nicht aufblättern, um zu wissen, was für einen Artikel sie enthielt. »Das ist ein echter Hit«, hatte Gabby gesagt. »Der erste Schritt zu meiner Professur.«
Es war die Ausgabe, in der Gabbys Artikel erschienen war. Der Anblick des Heftes traf mich wie ein Peitschenschlag. Ich wollte raus aus dieser Wohnung, wollte an diesem sonnigen Samstag irgendwo hin, wo ich in Sicherheit und meine beste Freundin nicht tot war, sondern mich anrief und sich mit mir zum Essen verabredete.
Wasser. Du brauchst kaltes Wasser, Brennan. Um dein Gesicht zu kühlen.
Ich schlich zu der Flügeltür und schob sie mit dem Fuß auf. Ich suchte die Küche.
BZZZ. BZZ.
Die Küche hatte kein Fenster. Rechts von mir stand eine Digitaluhr mit rötlich leuchtenden Ziffern. Ich sah zwei weiße Würfel und etwas Helles, Längliches in Hüfthöhe. Das mußten der Kühlschrank, der Herd und die Spüle sein. Ich tastete nach einem Lichtschalter. Zum Teufel mit den Vorschriften. Die Spurensicherung würde meine Fingerabdrücke schon nicht für die von Tanguay halten.
Ich preßte mir den Handrücken vor den Mund, stolperte auf die Spüle zu und spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht. Als ich mich aufrichtete und umdrehte, sah ich, daß Ryan in der Tür stand.
»Ich bin in Ordnung«, sagte ich.
Fliegen, die ich offenbar aufgeschreckt hatte, surrten durch den Raum.
BZZZ. BZZ.
»Wollen Sie ein Pfefferminz?« fragte Ryan und hielt mir eine Packung hin.
»Danke«, sagte ich und nahm eines. »Es ist nur die Hitze.«
»Wie in einem Backofen.«
Eine Fliege brummte an meiner Wange vorbei. »Was, zum Teu –« Ryan schlug nach dem Insekt. »Was macht der Kerl eigentlich hier drinnen?«
Ryan
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