Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
der Magen zusammen.
»Gabby! Ich habe zwei Wochen lang nichts von dir gehört. Warum hast du nicht…«
»Ich konnte nicht. Ich war – ich war mitten in einer blöden Geschichte. Tempe, ich brauche Hilfe.«
Ich hörte ein leises Kratzen und Klappern, als sie den Hörer zurechtrückte. An den gedämpften Stimmen und dem metallischen Klirren im Hintergrund erkannte ich, daß sie von einem öffentlichen Telefon aus anrief. Ich stellte mir vor, wie sie an der Wand lehnte, die Augen rastlos hin und her schweifen ließ und Angst in alle Himmelsrichtungen ausstrahlte wie Radio Free Europe seine Sendungen.
»Wo bist du?« Ich zog einen Kugelschreiber aus dem mikadoartig durcheinandergefallenen Stifthaufen vor mir und begann damit herumzuspielen.
»Ich bin in einem Restaurant. Im La Belle Province. Es ist an der Ecke Ste. Catherine und St. Laurent. Komm her und hol mich hier raus, Tempe. Alleine schaffe ich das nicht.«
Das Geklapper des Hörers wurde stärker. Gabby mußte ziemlich aufgeregt sein.
»Gabby, ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir. Du bist doch nur ein paar Blocks von deiner Wohnung entfernt. Könntest du denn nicht…«
»Er bringt mich um! Ich habe es nicht mehr im Griff. Ich dachte, ich hätte es, aber ich habe mich getäuscht. Ich kann ihn nicht mehr decken. Ich muß mich selber schützen. Er ist nicht in Ordnung. Er ist gefährlich. Er ist – complètement fou !«
Ihre Stimme war im Verlauf des Gesprächs immer lauter und zuletzt hysterisch geworden. Ich hörte auf, mit dem Stift zu spielen und schaute auf die Uhr. Es war viertel nach neun. Mist.
»Okay. Ich bin in fünfzehn Minuten bei dir. Warte auf mich. Ich komme die Rue Ste. Catherine entlang.«
Mein Herz raste, und meine Hände zitterten. Ich schloß das Büro ab und rannte mit zitternden Knien zum Auto. Dabei fühlte ich mich, als hätte ich mindestens acht Tassen starken Kaffee getrunken.
7
Es war dunkel geworden, aber die Straßen waren hell erleuchtet. In den Fenstern der Wohnhäuser rings um das im Eastend gelegene Gebäude der SQ mischte sich das gelbliche Licht der Glühbirnen mit dem bläulichen der Fernsehapparate. Es war ein warmer Sommerabend, und viele Leute saßen auf Balkonen und offenen Veranden. Sie unterhielten sich, nippten an eisgekühlten Drinks und freuten sich, daß die stickige Hitze des Tages einer erfrischenden abendlichen Kühle gewichen war.
Ich beneidete diese Menschen um ihren ruhigen Feierabend und wäre am liebsten selbst nach Hause gefahren und hätte mich nach einem gemeinsam mit Birdie verzehrten Thunfischsandwich ins Bett gelegt. Obwohl mir Gabbys Wohlergehen am Herzen lag, wäre es mir lieber gewesen, wenn sie ein Taxi genommen hätte. Einerseits grauste mir vor ihrer Hysterie, andererseits machte ich mir Sorgen um ihre Sicherheit. Ich war froh, wieder von ihr gehört zu haben und sauer, daß sie mich ins Rotlichtviertel bestellt hatte. Das war keine gute Mischung.
Ich fuhr die Rue René Lévesque bis zum Boulevard St. Laurent. Dort bog ich nach rechts ab und kehrte Chinatown den Rücken, wo die Geschäftsleute ihre Waren und Verkaufsständer in die Läden trugen, um sie für die Nacht abzusperren.
Jetzt war ich in der Main, die sich von Chinatown nach Norden erstreckt. Die Main ist ein Viertel voller kleiner Läden, schäbiger Bistros und billiger Cafés mit dem Boulevard St. Laurent als pulsierender Lebensader. Rechts und links von dieser Hauptstraße erstreckt sich ein Gewirr von schmalen Gassen mit eng beieinanderstehenden, billigen Wohnhäusern. Trotz ihres amerikanischen Namens hat die Main ein sehr französisches Flair, aber eigentlich war sie immer schon ein multikulturelles Mosaik, eine Zone, in der Menschen verschiedenster Sprach- und Kulturkreise leben und sich ebensowenig miteinander vermischen wie die ausgeprägten Gerüche, die hier aus Dutzenden von Läden und Bäckereien dringen. Italiener, Portugiesen, Griechen, Polen und Chinesen wohnen hier in ihren kleinen Enklaven zu beiden Seiten des Boulevard St. Laurent, der vom Hafen den Berg hinauf führt.
Die Main war früher einmal Montreals erste Anlaufstation für Einwanderer. Billiger Wohnraum und die Möglichkeit, in der Nähe von Landsleuten zu leben, zogen viele Neuankömmlinge an. Gemeinsam fiel es ihnen leichter, sich mit der neuen Lebensart zurechtzufinden und ihrer Angst vor einer ihnen vollkommen fremden Kultur Herr zu werden. Viele von ihnen lernten Französisch und Englisch, kamen zu Geld und zogen fort. Andere
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