Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
rote Licht blinkte nicht. Verdammt. Ich holte das Telefon aus dem Bad und drückte auf die Taste mit dem Hörer. Sofort kam der Wählton. Wieso sollte das Ding auch nicht funktionieren? Ich war bloß aufgeregt.
Ich legte mich aufs Sofa und stellte das Telefon auf den Couchtisch. Es hatte keinen Sinn, ins Bett zu gehen, denn bestimmt würde Ryan gleich anrufen. Ich schloß die Augen, um mich ein paar Minuten auszuruhen, bevor ich mir etwas zu essen machte. Aber die Kälte, der Streß und der Schlag auf den Hinterkopf forderten jetzt ihren Tribut. Eine Welle der Erschöpfung stieg in mir hoch, schlug über mir zusammen und zog mich hinab in einen tiefen, aber unruhigen Schlaf.
Im Traum befand ich mich hinter einem Zaun und sah zu, wie ein Mann auf der anderen Seite mit einer großen Schaufel ein Loch grub. Immer, wenn die Schaufel aus der Erde kam, wimmelte sie von Ratten, die wie überquellendes Popcorn sofort heruntersprangen und sich in alle Richtungen verteilten. Als ich auf den Boden blickte, waren die Ratten überall, und ich mußte nach ihnen treten, damit sie mich nicht in die Füße bissen. Der Mann wandte mir zuerst den Rücken zu, aber dann drehte er sich um, und ich sah, daß es Pete war. Er deutete auf mich und sagte etwas, das ich aber nicht verstehen konnte. Dann fing er an zu rufen und mich herbeizuwinken. Sein Mund war ein schwarzer Kreis, der immer größer wurde, bis er seinem Gesicht das Aussehen einer gräßlichen Clownmaske verlieh.
Die Ratten liefen mir über die Füße. Eine von ihnen zerrte den Kopf von Isabelle Gagnon an den Haaren hinter sich her, wobei immer wieder kleine Haarbüschel abrissen und auf dem Gras liegenblieben.
Ich wollte fortlaufen, konnte aber meine Beine nicht bewegen. Sie steckten in der Erde, und als ich an ihnen hinunterblickte, sah ich, daß ich in einem tiefen Grab stand. Von oben fiel etwas Erde herunter. Claudel und Charbonneau schauten herab zu mir. Ich versuchte, etwas zu sagen, aber ich brachte keinen Ton heraus. Ich wollte, daß sie mich herauszogen und streckte ihnen die Hände hin, aber sie schenkten mir keine Beachtung.
Dann gesellte sich ein weiterer Mann zu ihnen, der eine lange Robe und einen seltsamen Hut trug. Auch er sah zu mir herunter und fragte mich, ob ich denn schon gefirmt sei. Ich konnte ihm keine Antwort geben. Dann sagte er mir, daß ich mich auf Kirchengrund befände und mich sofort entfernen müsse. Nur wer für die Kirche arbeite, dürfe ihr Gelände betreten. Seine Soutane flatterte im Wind, und ich hatte Angst, daß sein Hut herunter in das Grab fallen könnte. Während der Priester ihn mit einer Hand festhielt, nahm er mit der anderen ein Handy aus der Tasche und begann zu wählen. In diesem Augenblick fing das Telefon zu klingeln an, aber der Priester interessierte sich nicht dafür. Es klingelte und klingelte. Dann wachte ich auf und merkte, daß es mein eigenes Telefon war, das klingelte. Ich nahm es und drückte auf die Hörertaste.
»Hallo?« sagte ich erschöpft.
»Brennan?«
Es war eine englisch gefärbte Stimme. Sie klang brüsk und vertraut zugleich. Ich versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen.
»Wer ist da?« Ich schaute auf mein Handgelenk, an dem sich aber keine Uhr befand.
»Ryan. Wieso wollen Sie mich denn mitten in der Nacht sprechen?« Seine Stimme klang gereizt.
»Wie spät ist es denn?« Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, ob ich fünf Minuten oder fünf Stunden geschlafen hatte. Das hatten wir doch schon mal gehabt.
»Viertel nach vier.«
»Einen Moment bitte.«
Ich legte den Hörer hin, stolperte ins Bad, klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht, sang eine Strophe von What Shall We Do With The Drunken Sailor und rannte dabei auf der Stelle. Nachdem ich meinen Turban wieder in Ordnung gebracht hatte, ging ich zurück ans Telefon. Ich wollte Ryan nicht noch mehr verärgern, indem ich ihn warten ließ, aber andererseits wollte ich ihm auch nicht irgendwelchen Unsinn erzählen. Außerdem spricht es sich im wachen Zustand einfach besser.
»Okay. Hier bin ich wieder. Tut mir leid.«
»Habe ich da eben jemanden singen gehört?«
»Ja. Ich war heute nacht in St. Lambert«, fing ich an. Vier Uhr fünfzehn am Morgen war keine Zeit, um allzusehr in die Details zu gehen. »Ich habe den Ort gefunden, an dem St. Jacques sein drittes X gemacht hat. Es befindet sich auf einem verlassenen Kirchengrundstück.«
»Und deshalb haben Sie mich mitten in der Nacht verständigen lassen?«
»Ich habe dort eine Leiche
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