Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
wenn ich die Noten dafür vergeben würde, hätte er eine Fünf minus bekommen. Poiriers Finger fühlten sich so kalt und schlaff an wie Karotten, die zu lange im Gemüsefach des Kühlschranks gelegen hatten. Als er meine Hand losließ, mußte ich mich zurückhalten, um sie nicht an meiner Jeans abzuwischen.
Pater Poirier wiederholte dasselbe Ritual mit Ryan, der sich ebenfalls nichts anmerken ließ. Ryans frühmorgendliche Jovialität war verflogen und hatte grimmigem Ernst Platz gemacht. Er war jetzt wieder ganz Polizist. Poirier sah aus, als wolle er etwas sagen, aber als er Ryans Gesicht sah, überlegte er es sich anders und machte einen schmalen Mund. Ohne eine weitere Erklärung hatte er erkannt, daß Ryan jetzt hier das Sagen hatte.
»War schon jemand drin?« fragte Ryan.
»Niemand. Der Officer bewacht das Gelände seit fünf Uhr früh«, sagte Bertrand und deutete auf den uniformierten Polizisten neben ihm. »Seitdem hat niemand das Gelände betreten oder verlassen. Pater Poirier sagt, daß nur er selbst und ein Hausmeister Zutritt zu dem Grundstück haben. Der Hausmeister ist über achtzig und kümmert sich schon seit dem Zweiten Weltkrieg um das Grundstück.«
»Das Tor kann gar nicht offen gewesen sein«, sagte Poirier und drehte seine Fliegerbrille wieder in meine Richtung. »Ich prüfe das Schloß jedesmal, wenn ich hier bin.«
»Und wann waren Sie das letzte Mal hier?« fragte Ryan.
Poiriers Kopf schwang von mir wieder hinüber zu Ryan. Dann sah der Pater Ryan gute drei Sekunden an, bevor er antwortete.
»Ich komme mindestens einmal die Woche her. Die Kirche kümmert sich um ihren Besitz. Wir lassen ihn nicht einfach –«
»Was ist das eigentlich für ein Grundstück?«
Wieder eine Pause. »Das Kloster St. Bernard. Die Kirche hat es 1983 geschlossen. Sie war der Meinung, daß die geringe Zahl der Mönche eine Weiterführung nicht rechtfertigte.«
Ich fand es seltsam, daß er von der Kirche sprach, als wäre sie ein Lebewesen mit Gefühlen und Meinungen. Poiriers Französisch klang irgendwie anders als der flache, gepreßte Dialekt in Quebec. Er kam nicht von hier, soviel war klar, aber sein Akzent hatte auch nicht den präzisen Klang eines Franzosen. Ich vermutete, daß er aus Belgien oder der Schweiz kam.
»Und was geschieht hier, seit das Kloster geschlossen wurde?« wollte Ryan wissen.
Wieder machte Poirier eine kleine Pause, als brauchte es eine Weile, bis die Schallwellen bei ihm ankamen.
»Heutzutage überhaupt nichts.«
Er hörte auf zu sprechen und seufzte. Vielleicht erinnerte er sich an glücklichere Zeiten, in denen es der Kirche gut ging und die Klöster in voller Blüte standen. Vielleicht sammelte er auch nur seine Gedanken, um vor der Polizei eine präzise Aussage machen zu können. Die Gläser seiner Sonnenbrille waren so dunkel, daß ich seine Augen nicht sehen konnte. Ein seltsamer Priester ist das schon, dachte ich, mit seiner makellosen Haut, seiner Lederjacke und seinen Motorradstiefeln.
»Ich komme regelmäßig vorbei, um nach dem rechten zu sehen«, fuhr Poirier fort. »Und der Hausmeister hält die Sachen in Schuß.«
»Was für Sachen?« fragte Ryan, der sich Notizen auf einem kleinen Spiralblock machte.
»Die Heizung, zum Beispiel. Außerdem schaufelt er Schnee. Im Winter wird es hier sehr kalt.« Bei diesen Worten machte Poirier eine weit ausladende Armbewegung, die die ganze Provinz einzuschließen schien. »Und er kontrolliert die Fenster, die ab und zu mal von spielenden Jungs eingeworfen werden. Außerdem überprüft er sämtliche Türen und Tore und sieht nach, ob auch alle verschlossen sind.« Die letzten Worte waren speziell an mich gerichtet.
»Wann haben Sie die Vorhängeschlösser denn zuletzt überprüft?« fragte Ryan.
»Am Sonntag abend um sechs. Alle waren ordnungsgemäß verschlossen.«
Poiriers prompte Antwort verblüffte mich. Diesmal hatte er sich keine Zeit gelassen, um nachzudenken. Vielleicht hatte Bertrand ihm diese Frage ja schon vorhin gestellt, oder vielleicht hatte Poirier damit gerechnet, daß sie kommen würde. Jedenfalls war er in diesem Punkt ausnahmsweise sehr schlagfertig.
»Haben Sie sonst irgend etwas Ungewöhnliches bemerkt?«
» Rien .« Nichts.
»Wie heißt nochmal dieser Hausmeister?«
»Monsieur Roy.«
»Und wann schaut Monsieur Roy hier vorbei?«
»Normalerweise am Freitag, es sei denn, er hat etwas Besonderes zu erledigen.«
Ryan sagte nichts und sah Poirier fragend an.
»Wie Schneeschippen oder ein Fenster
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