Tote lügen nicht: 1. Fall mit Tempe Brennan
Claudel auseinandersetzen und die verschorften Wunden in meinem Gesicht pflegen. Katy hatte offenbar vor, das Groupie eines Basketballspielers zu werden, und ich konnte sie durch nichts davon abbringen. Pete war dabei, eine neue Stelle anzutreten, und ich war so geil wie Madonna, aber weit und breit war kein Mann in Sicht. Und wo, zum Teufel, steckte bloß Gabby?
»Genau«, sagte ich so laut, daß die Tauben und der Mann neben mir auf der Bank aufschreckten. Auf einmal wußte ich, was ich zu tun hatte.
Ich ging nach Hause, holte meinen Wagen aus der Tiefgarage und fuhr zum Carré St. Louis. An der Avenue Henri-Julien stellte ich das Auto ab und ging um die Ecke zu Gabbys Haus. Manchmal kam es mir wie Barbies Traumhaus vor, aber heute schien es eher aus einer Geschichte von Lewis Carroll zu stammen. Fast hätte ich lächeln müssen.
Auf der lavendelfarbenen lackierten Veranda brannte eine einzelne Glühbirne und warf die Schatten der Petunien auf die hölzernen Hauswände. Die Fenster starrten mich an. »Alice ist nicht daheim«, schienen sie zu sagen.
Ich klingelte bei der Nummer drei. Nichts. Ich klingelte nochmal. Stille. Danach probierte ich es bei Nummer eins, zwei und vier. Keine Reaktion. Das Wunderland war heute abend nicht geöffnet.
Ich ging zurück zu meinem Mazda, fuhr langsam um den Park herum und hielt Ausschau nach Gabbys Wagen. Als ich ihn nicht fand, fuhr ich ohne einen konkreten Plan erst nach Osten und dann nach Süden in Richtung Main. Nachdem ich zwanzig frustrierende Minuten lang nach einem Parkplatz gesucht hatte, stellte ich mein Auto in einer der kleinen Seitenstraßen ab, die im rechten Winkel auf den Boulevard St. Laurent zulaufen. Die Straße stank nach abgestandenem Urin, unzählige plattgetretene Bierdosen lagen herum. Überall sah ich Müllhaufen, und durch eine Ziegelwand auf der linken Straßenseite konnte ich das Wummern einer Musikbox hören. Es war die klassische Umgebung für einen dieser metallenen Sperrbügel, die man zwischen Kupplungspedal und Lenkrad spannt. Da ich einen solchen nicht besaß, vertraute ich meinen Mazda dem Gott der Parkplätze an und begab mich zu Fuß in den Rotlichtbezirk.
Ähnlich wie der Regenwald wird auch die Main von einer Vielzahl unterschiedlicher Spezies bewohnt, die sich in friedlicher Koexistenz den vorhandenen Lebensraum teilen. Manche dieser Gruppen sieht man nur untertags, während andere ausschließlich die Nacht bevölkern.
Von der Morgen- bis zur Abenddämmerung gehört die Main den Lieferanten und Ladenbesitzern, den Hausfrauen und Schulkindern. Spielgeräusche dominieren, und die Gerüche sind angenehm und haben meistens etwas mit Essen zu tun, wie der nach frischem Fisch bei Waldman’s, nach geräuchertem Fleisch bei Schwartzs’s, nach Äpfeln und Erdbeeren bei Warshaws’s und nach frischem Backwerk bei der Boulangerie Polonaise.
Wenn dann die Schatten länger werden, die Geschäfte schließen und das Licht der Straßenlaternen angeht, bevölkern andere Gestalten die Gehsteige vor den Bars und Pornoschuppen. Einige von ihnen sind harmlose Touristen oder Collegestudenten, die billiges Bier trinken und sich im Nachtleben umsehen wollen. Andere wieder sind nicht ganz so harmlos: Zuhälter, Drogendealer, Nutten und Junkies. Die Ausbeuter und die Ausgebeuteten, die sich alle ganz oben auf der Skala des menschlichen Leids befinden.
Jetzt, um elf Uhr, war die Main ganz in den Händen der Nachtschicht. Die Gehsteige waren belebt und die billigen Bars und Bistros zum Brechen voll. Ich ging zur Rue Ste. Catherine und suchte das Restaurant, aus dem Gabby ihren aufgeregten Anruf getätigt hatte. Es schien mir ein guter Ort, um meine Suche zu beginnen.
Das Lokal roch nach Desinfektionsmittel, altem Fett und angebrannten Zwiebeln. Weil es zu spät fürs Abendessen und zu früh für die spätabendlichen Trinker war, waren nur vier Tische besetzt.
Ein Pärchen mit Irokesenfrisuren hockte stumpf vor sich hinbrütend über halb gegessenem Chili con carne. Die steil aufgestellten Haare des Mädchens hatten genau denselben Schwarzton wie die des Jungen. Vermutlich hatten sich die beiden eine Packung Haarfärbemittel geteilt. Mit dem nietenverzierten Leder, das sie am Leib trugen, hätte man leicht eine Mischung aus Motorradladen und Hundezwinger aufmachen können.
Eine Frau mit bleistiftdünnen Armen und hochtoupierten, platinblonden Haaren saß rauchend und Kaffee trinkend an einem Tisch in der hintersten Ecke des Raums. Sie trug ein rotes
Weitere Kostenlose Bücher