Tote Maedchen luegen nicht
Vorwand. Und mehr als einen Vorwand brauchte dieser Typ nicht.
Bevor die Liste existierte, habe ich den Lippen von Angela Romero keine Beachtung geschenkt. Doch danach faszinierten sie mich. Wenn sie in der Klasse das Wort ergriff, bekam ich nicht mit, was sie sagte, weil ich nur auf die Bewegungen ihres Mundes achtete. Wenn sie Dinge wie »Chlorophyll« oder »Schulsprecher« sagte, beobachtete ich gebannt, wie hinter den Lippen die Unterseite ihrer Zunge sichtbar wurde.
Handlung Nummer zwei: Er packte mein Handgelenk und legte mir die Hand auf die Schulter.
Ich werde das nicht weiter interpretieren. Ich will euch nur sagen, warum ich total sauer war. Mir hat schon früher mal jemand an den Hintern gefasst - keine große Sache -, aber diesmal war es passiert, weil ein anderer meinen Namen auf eine Liste geschrieben hat. Und hat sich der Typ etwa bei mir entschuldigt, als er gesehen hat, wie sauer ich war? Natürlich nicht. Stattdessen wurde er aggressiv und sagte mir in seiner arroganten Art, dass ich mich nicht aufregen soll. Und dann legte er mir auch noch seine Hand auf die Schulter, als würde mich seine Berührung irgendwie trösten.
Ein Tipp: Wenn ihr ein Mädchen anfasst, ob aus Spaß oder nicht, und sie eure Hand wegschlägt, dann LASST... SIE ... IN... RUHE! Berührt sie nicht noch einmal. Hört einfach auf damit! Sie kann eure Berührung nicht ertragen!
Alles andere an Angela war nicht annähernd so faszinierend wie ihre Lippen. Total okay, aber eben nicht faszinierend.
Bei einem Freund von mir haben wir letztes Jahr Flaschendrehen gespielt, nachdem mehrere von uns zugegeben hatten, dass sie darin noch völlig unerfahren waren. Und ich weigerte
mich aufzuhören, bis meine Flasche endlich einmal auf Angela zeigte. Oder ihre Flasche auf mich. Als es so weit war, drückte ich meine Lippen mit geradezu quälender Langsamkeit und Präzision auf ihre.
Es gibt schon einige Leute hier, die ein bisschen merkwürdig und verrückt sind, Alex - und vielleicht bin ich ja eine von ihnen -, aber der entscheidende Punkt ist der: Wenn du jemanden lächerlich machst, dann bist du auch verantwortlich dafür, wie sich andere dieser Person gegenüber verhalten.
Später haben Angela und ich dann auf der Veranda hinter ihrem Haus weitergemacht. Ich konnte von ihren Lippen einfach nicht genug bekommen.
Und das alles wegen der Liste.
Im Grunde stimmt das nicht ganz. Du hast mich ja nicht lächerlich gemacht. Mein Name war schließlich in der vorteilhaften Spalte. Jessica stand auf der anderen Seite. Sie hast du lächerlich gemacht. Und so ist aus deinem Schneeball eine Lawine geworden.
Jessica, Süße, du bist die Nächste ...
Ich öffne den Walkman und ziehe die erste Kassette heraus.
In der kleinsten Tasche meines Rucksacks befindet sich die nächste Kassette. In der oberen Ecke steht eine blaue 3. Ich lege sie ein und schließe die Klappe.
KASSETTE 2: SEITE A
Es dauert eine Weile, bis Hannahs Stimme zu hören ist.
Schritt für Schritt. So werden wir weiter vorangehen.
Auf der anderen Straßenseite versinkt die Sonne allmählich zwischen den Häusern. Alle Straßenlaternen leuchten. Ich nehme den Schokoriegel von meinen Knien, greife zu meiner Limoflasche und stehe auf.
Eine Kassette haben wir bereits geschafft, sogar beide Seiten, also begleitet mich weiterhin. Alles wird besser - oder schlechter -, das hängt natürlich von eurer Sichtweise ab.
Nahe der Eingangstür des Blue Spot Liquor befindet sich ein Mülleimer in Gestalt eines blau angesprayten Ölkanisters.
Ich werfe den Schokoriegel mitsamt seiner Verpackung hinein, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass mein Magen feste Nahrung jetzt bei sich behalten würde. Dann mache ich mich auf den Weg.
Ich weiß, dass es sich so anhört, aber ich war zu Beginn meines ersten Highschooljahres nicht völlig auf mich allein
gestellt. Schließlich gab es noch zwei andere Neulinge in dieser Gegend, und beide gehören zu den Leuten, denen Hannah Bakers Greatest Hits gewidmet sind: Alex Standall und Jessica Davis. Wir haben uns zwar nie richtig angefreundet, waren in den ersten Schulwochen aber in gewisser Weise aufeinander angewiesen.
Die Limoflasche zischt, als ich den Schraubverschluss öffne. Ich trinke einen Schluck.
Eine Woche vor Ende der Sommerferien rief mich Ms Antilly zu Hause an und bat mich, zu einer »kleinen Informationsveranstaltung für neue Schüler« in die Schule zu kommen.
Falls ihr euch nicht mehr erinnert, Ms Antilly war die Tutorin für
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