Tote Maedchen schreiben keine Briefe
den Mund öffnete, würde es zischen.
Ich musste mich konzentrieren. Die Antwort lag eigentlich auf der Hand: Jazz' Mitbewohnerin war einfach eine andere Rhonda Mallory. Wie viele Mädchen auf der Welt hießen wohl so? Es war kein ungewöhnlicher Name wie Gamma Ray oder Ziggy Pumpkin oder Leroy Pharts. Allein an meiner Schule kannte ich schon zwei Rhondas. Allerdings hieß keine von ihnen Mallory mit Nachnamen. Aber wenn ich schon mit zwei Rhondas in unserem Kaff in Texas aufwarten konnte, dann müsste sich doch mit irgendeiner mathematischen Gesetzmäßigkeit nachweisen lassen, dass es in den gesamten Vereinigten Staaten mehr als eine Rhonda Mallory gab.
Ich brauchte Antworten auf ein paar Fragen, aber Dad befeuerte wahrscheinlich gerade seine Wut mit Bourbon. Wie auch immer, er würde jetzt erst mal nicht mit mir reden. Ich bemühte mich, im Stile da Vincis die Situation zu durchdenken: Dad hatte die Information von Ollie erhalten. Heute, am Sonntag. Dad hatte gesagt, Ollie sei zu Hause. Ich musste nicht spiegelschriftlich schreiben, um die Antwort zu erkennen. Ollie kannte mich und wusste, dass Mom nicht ganz richtig im Kopf war. Er hatte mich einmal sogar Dad gegen Kaution aus dem Gefängnis holen lassen, als sie ihn wegen Trunkenheit und ungebührlichen Benehmens festgenommen hatten.
Er würde mir helfen, wenn er konnte.
Ich krabbelte aus dem Bett und flitzte über den Flur ins Arbeitszimmer. Leise schloss ich die Tür und sperrte ab. Ich setzte mich auf die vordere Kante des Stuhls, riss die obere Schublade auf, holte das Telefonbuch heraus und knallte es auf die Tischplatte. Suchend fuhr ich mit dem Finger die Namen auf der Seite entlang, dann wählte ich seine Privatnummer. Der Hörer wurde schon beim ersten Klingeln von der Gabel gerissen.
»Hallo.«
Es war eine Mädchenstimme.
»Laura?«
»Jep, wer ist da?«
»Ich bin's, Sunny Reynolds. Ist dein Dad zu Hause?«
»An einem Sonntag? Wenn Golf in der Glotze läuft? Geht die Sonne im Osten auf?«
»Kann ich ihn sprechen?«
»Schätze schon, wenn ich ihn mit einem kalten Bier unter der Nase herlocke. Warte.«
Laura rief nach ihrem Vater und ich überlegte, ob die Fenster in Ollies Haus wohl bruchsicher waren.
Nach einigen schlurfenden Geräuschen meldete sich Ollie. Im Hintergrund hörte ich Laura: »Und Dad, blockier das Telefon nicht ewig. Ich warte auf einen Anruf.«
»Hallo?«, meldete sich Ollie erneut.
»Hallo, Mr Gains, hier ist Sunny Reynolds.«
»Hey, Sunny. Ich habe gerade erst mit deinem Vater gesprochen.«
»Ich weiß, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Schieß los.«
»Dad sagte, Rhonda Mallory ist schon vor Längerem gestorben.«
»Genau, das hat mir die New Yorker Polizei mitgeteilt.«
»Es gibt aber doch bestimmt mehr als eine Rhonda Mallory auf der Welt?«
»Sunny, ich habe das alles deinem Dad schon erzählt.«
»Ich weiß. Aber er redet gerade nicht wirklich mit mir.«
»Wir müssen Dan zu den Anonymen Alkoholikern bringen.«
»Ich weiß, Ollie. Aber können wir jetzt erst mal über die Sache mit Rhonda Mallory sprechen?«
»Klar. Es gibt wahrscheinlich eine ganze Wagenladung von Rhonda Mallorys, aber diese eine hat dieselbe Sozialversicherungsnummer, dasselbe Geburtsdatum und denselben Geburtsort wie die Rhonda, die mit Jazz im Schauspielkurs war. Und diese Daten stimmen auch mit denen auf dem Totenschein eines Mädchens überein, das in einer kleinen Stadt in Maryland, in Dobbins Bend, beerdigt wurde.«
Ich holte tief Luft. »Wie ist das möglich?«
»Sagen wir mal so: Wenn jemand wirklich untertauchen will, dann nimmt er die Identität einer anderen Person an - und zwar einer, die sicher auf dem Friedhof ruht. Das ist heute nicht mehr ganz so einfach wie früher, aber immer noch möglich. Und solange derjenige, der untertauchen will, keine Anträge auf irgendwelche Leistungen stellt, kann er sich sehr lange hinter der Identität eines Toten verstecken.«
»Oh«, sagte ich schließlich nach längerem Schweigen.
»Genau, die Leute von der New Yorker Polizei sind bei meinem Anruf verdammt hellhörig geworden. Dein Dad will wahrscheinlich nicht, dass deine Mom davon erfährt, aber ich vermute, die Großstadt-Cops sind der Meinung, die Sache mit dem Brand stinkt.«
»Stinkt?«
»Ist suspekt. Sie hatten Rhonda Mallory bereits überprüft. Sie stand nicht im Mietvertrag, aber Nachbarn wussten, dass sie dort wohnte. Sie wollten nichts Genaueres sagen, doch von mir wollten sie Informationen. Das sagt
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