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Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Tote Maedchen schreiben keine Briefe

Titel: Tote Maedchen schreiben keine Briefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gail Giles
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andere Knie, ließ den Schuh von der Ferse rutschen und an den Zehen baumeln.
    »Mann, Karen, deine Snicker-Razzien hatte ich fast schon vergessen.«
    Die Rädchen in meinem festgefahrenen Gehirn blockierten. Karen ? Ich starrte Jazz an.
    Ihr Körper wirkte gelassen, doch ihre Miene war angespannt. Sie betrachtete den Schuh, der immer schneller an ihren Zehen hin- und herschwang. Aber ich glaube nicht, dass sie den Schuh wahrnahm.
    »Nein, ich ...«, setzte ich an.
    »Komm schon, klar wolltest du. Ich hatte immer meine Notration an Snickers im Nachttisch versteckt, wo du sie dann stibitzt hast. Du wusstest, dass ich es Mom nicht erzählen würde, weil sie der Meinung ist, Schokolade sei eine Todsünde.«
    Jazz blinzelte und Verwirrung verschleierte ihren Blick. Sie packte den Schuh, setzte sich aufrecht hin und streifte ihn sich bedächtig wieder über den Fuß. Sie sah mich an. Ihre Augen waren jetzt wieder offen und freundlich. »Stimmt's?«
    »Stimmt.«
    »Na dann.« Jazz stand auf. Ich wich zurück.
    »Während Mom schläft, mach ich uns mal schnell eine Kleinigkeit zum Abendessen. Warum ruhst du dich nicht solange ein bisschen aus oder liest oder so? Du siehst müde aus.«
    »Jep, danke.« Ich drehte mich um und floh. Maßlos erleichtert betrat ich mein Zimmer.
    Nach diesem Wortwechsel gerade hätte es mich nicht sonderlich verwundert, die Möbel an der Decke oder Gras an den Wänden vorzufinden.
    Ich setzte mich in den hölzernen Schaukelstuhl. Mit der rechten Hand strich ich über die geschwungene Armlehne. Das vertraute Gefühl tröstete mich. Ich hatte den Stuhl selbst gestrichen.
    Als wir jünger waren, durften Jazz und ich nicht auf dem riesigen Dachboden des Hauses spielen. Aber ich musste natürlich trotzdem alle Ecken und Winkel erkunden. Ich fand den ramponierten Schaukelstuhl, schleppte ihn nach unten, beizte ihn ab und strich ihn weiß. Er bekam einen Platz in meinem Zimmer und wurde zum Thron für den von mir ernannten König Toulouse, der damals noch ein Katzenbaby war.
    Moms Lippen wurden ganz schmal beim Anblick des Stuhls. »In dem Schaukelstuhl habe ich Jazz immer gewiegt, als sie noch ein Baby war. Aber du schienst das zu hassen, also habe ich ihn weggeräumt«, sagte sie.
    Von da an schaukelten Toulouse und ich immer zur Beruhigung in dem Stuhl, wenn ich aufgebracht war. Als Toulouse älter wurde, zog er festen Boden unter den Pfoten vor und thronte vorwiegend auf dem Kühlschrank. Aber sobald er das rhythmische Schlagen der Kufen auf den Holzdielen hörte, bewegte er sein struppiges Hinterteil immer noch die Treppe hoch. Jetzt schaukelte ich. Und dachte nach. Toulouse tauchte auf, sprang auf meinen Schoß, knetete mit seinen Pfoten meine Schulter und rieb seinen Kopf an meinem Kinn. Abwesend streichelte und kraulte ich den Kater.
    Karen. Wer war Karen ? Und was sollte das ganze Gerede über Schokolade? Wir hatten gerade erst Brownies und Eis gegessen. Snicker-Razzien? Ich schaukelte vor lauter Verwirrung schneller. Jazz hatte verändert gewirkt, als sie mich Karen nannte. Ihr Gesicht hatte sich verwandelt, als ob irgendein unsichtbarer Bildhauer den weichen Ton einer Kopfskulptur bearbeitet hätte. Ihr ganzes Verhalten war anders gewesen. Nicht-Jazz war aus ihrer Jazz-Rolle gerutscht.
    Ich schüttelte den Kopf. Die Sache geriet außer Kontrolle. Das Gespräch über Emory kam mir in den Sinn. Das Mädchen hatte gesagt, er konnte zu einer anderen Person werden. Es lag auf der Hand, dass dieses Mädchen zu Jazz »geworden« war. Aber sie hatte mich »Karen« genannt. Kannte Rhonda Karen? Oder - die Haut meines Arms kribbelte, Oma sagte zu dem Gefühl immer: »Da ist eine Gans über dein Grab gelaufen.« Hatte das Mädchen so etwas schon einmal gemacht? Wenn sie zu Jazz werden konnte, warum nicht auch zu irgendjemand anderem? Brachte sie ihre Rollen durcheinander? Wer war sie? Und wo war Jazz? War sie bei dem Brand ums Leben gekommen? Oder hatte sie das Mädchen instruiert und hierhergeschickt? Warum sollte Jazz so etwas tun?
    Als ich wieder ruhiger wurde, schaukelte ich langsamer. Ich musste einen Blick in das Tagebuch werfen und Dad musste Informationen über Jazz' Mitbewohnerin beschaffen.
    Ich hielt den Schaukelstuhl an. Einzelne Fetzen irgendeines aktuellen Songs wehten die Treppe hoch. Jazz sang unten in der Küche, völlig vertieft in ihre Hausmütterchen-Rolle.
    »Keine Zeit zu verlieren«, flüsterte ich und stand auf.
    Ich ging über den Flur in Jazz' Zimmer. Rasch flitzte ich zum

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