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Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Gefühl, daß sie Angst habe, mich
fallen zu lassen und zu zerbrechen. Wenn sie gegangen war, saß ich immer lange
auf Bens oder Nillas Schoß. Ich konnte nicht verstehen, warum sie mich, wenn
sie meine Mutter war, nicht so im Arm halten konnte wie die beiden.«
    »Und Ihr Vater? Hat Ihre Mutter je von
ihm gesprochen?«
    »Nein, aber er besuchte mich einmal.
Ich war etwa dreieinhalb, fast vier. Ich hoffte — oder vielleicht bilde ich es
mir auch nur ein — , daß sie mich bald zu sich holen würden, aber er kam nie
wieder.«
    »Können Sie ihn beschreiben?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Im
Laufe der Jahre habe ich immer wieder versucht, ihn mir vorzustellen, aber es
ist alles ganz verschwommen. Ich hatte den Eindruck, daß er vielleicht aus dem
Südwesten kam, denn er trug eine von diesen Krawatten aus geflochtenen Bändern.
Ich weiß noch, daß ich auf seinem Schoß saß und mit diesen Schnüren spielte;
wenn die Metallenden der Bänder aufeinanderschlugen, gab es ein klickendes
Geräusch.«
    Ich notierte im Geist, daß ich
herausfinden mußte, woher Hilderly ursprünglich kam. »Sie sagen, Ihre Mutter
besuchte Sie, bis Sie vier Jahre alt waren. Was passierte dann?«
    Während Goodhue von ihrer Kindheit
gesprochen hatte, war ihr Gesicht lebhaft geworden. Nun war es, als ob jemand
einen Schalter betätigt und das Licht gelöscht hätte. Sie legte die
Wimperntusche weg und kauerte am Rand ihres Stuhles.
    »Sie... starb.«
    »Wie?«
    »Sie... Ich erfuhr das erst viel
später. Nilla und Ben sagten mir nur, daß sie weggehen mußte, aber daß ich mir
keine Sorgen machen sollte, weil sie mich liebte und immer an mich denken
würde. Dann schienen sie nicht mehr über sie sprechen zu wollen, und ehrlich
gesagt, nachdem sie in meinem Leben nur eine so kleine Rolle gespielt hatte,
vergaß ich sie mehr oder weniger. Aber als ich in der sechsten Klasse war,
hörte ich, wie ein paar Nachbarskinder über sie sprachen — ältere Kinder, die
ihr ganzes Leben in der Gegend verbracht hatten. Sie war in Schwierigkeiten
geraten — irgendwas mit den Protestaktionen gegen den Krieg — , und dann beging
sie Selbstmord.«
    Ich verspürte ein heftiges Mitleid mit
der Sechskläßlerin, die auf unerfreuliche Weise so etwas Häßliches erfahren
hatte. »Was für Schwierigkeiten?«
    Goodhue schüttelte den Kopf. »Die
Kinder hatten nur einen Teil der Geschichte gehört — sie hatten, wie Kinder das
so tun, Fetzen von einer Unterhaltung aufgeschnappt. Sie erzählten mir, daß
meine Mutter eines Nachts ans Meer gegangen sei und sich in den Kopf geschossen
habe. Ben und Nilla flippten aus, als sie es in den Nachrichten sahen. Ich kam
mit der Geschichte zu ihnen, in der Hoffnung, daß alles nicht stimmte. Aber sie
wollten nicht darüber sprechen. Das war das einzige Mal, daß sie mich
enttäuschten. Jahre später, nachdem sie beide tot waren und ich nicht mehr das
Gefühl hatte, einen von ihnen zu verraten, beauftragte ich einen Detektiv, die
ganze Geschichte herauszufinden. Er bestätigte mündlich, daß die Sache so
passiert war, wie die Kinder sie erzählt hatten, und schrieb einen Bericht.
Aber — das ist das Komische daran — wissen Sie, was ich tat?«
    »Was?«
    »Ich verbrannte das ganze Ding, ohne es
je zu lesen. Nach all den Jahren der Ungewißheit und bei all dem Geld, das ich
für den Detektiv ausgegeben hatte, wollte ich es nun plötzlich nicht mehr
wissen.«
    Seriöse Detektive heben sich jedoch
Kopien ihrer Berichte eine ganze Weile lang auf. »Erinnern Sie sich noch an den
Namen des Detektivs, den Sie beauftragten?«
    »Nicht auswendig. Aber ich bin sicher,
ich habe den Namen irgendwo in meinen Unterlagen.«
    »Ich hätte ihn ganz gerne, wenn es
Ihnen nicht zu große Umstände bereitet.«
    Goodhue schaute etwas ängstlich.
»Warum? Brauchen Sie ihn, um meinen Anspruch auf die Erbschaft
sicherzustellen?«
    Da Hilderly angenommen hatte, Hank
wisse, wer sie war, und aufgrund ihres ungewöhnlichen Namens war ich ziemlich
sicher, daß ich die richtige Jess Goodhue vor mir hatte. Dennoch blieb ich
vorsichtig: »Es würde mir helfen. Und es würde mir auch helfen zu verstehen,
warum Hilderly dieses Testament schrieb.«
    »Warum ist Ihnen das so wichtig?«
    Ich zögerte, dann wählte ich eine
Antwort, von der ich glaubte, daß Goodhue — als Nachrichtensprecherin — sie
verstehen würde. »Ich suche nach der Wahrheit. Ich muß es wissen.«
    Sie nickte. »Das kenne ich von mir. Ich
schaue morgen, daß ich den Namen finde, und

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