Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
Unehelich.« Sie machte eine Pause, schaute mich
im Spiegel an, als warte sie auf eine Reaktion. Als keine kam, fuhr sie fort:
»Meine Mutter hieß Jenny Ruhl. Sie gehörte zu den Radikalen, sie war aktiv in
der Campus-Protestbewegung. Ich fand das später heraus.«
    »Sie kannten sie gar nicht?«
    Goodhue wandte sich wieder mir zu. Sie
wurde von hinten von den nackten, matten Glühbirnen, die den Spiegel umgaben,
angeleuchtet. Dieses Licht ließ die Flächen und Kurven ihres Gesichtes weicher
und sie noch jünger erscheinen. Als sie zu sprechen begann, war ihre Stimme
nicht mehr so fest und selbstsicher wie zuvor.
    »Oh, doch, ich kannte sie. Ich erinnere
mich sogar noch ein bißchen an sie. Aber ich eile voraus. Also, meine Mutter
brachte mich am siebzehnten Januar zur Welt. Mein Vater ist in der
Geburtsurkunde als ›unbekannt‹ eingetragen. Meine Mutter kam aus einer
wohlhabenden Familie aus Orange County; ich glaube, viele der sogenannten
Revolutionäre kamen aus einem reichen, konservativen Elternhaus. Aus
irgendeinem Grund erzählte sie ihrer Familie nie von mir. Statt dessen benutzte
sie den Zuschuß, den sie von ihnen bekam, dazu, mich zu einem älteren Ehepaar
hier in San Francisco abzuschieben. Diese Leute hatten einen kleinen Hort und
nahmen Kinder auf, deren Eltern sich nicht um sie kümmern konnten — Pflegekinder
vom Wohlfahrtsamt und andere, so wie mich. Ben und Nilla Goodhue. Sie...«
    Es klopfte an der Tür. Eine
Frauenstimme rief: »Jess, du bist als nächste dran. Beeil dich!«
    Goodhue fuhr in die Höhe. »Oh, Gott,
ich hätte fast den Spot verpaßt! Ich muß meinen Hintern nach oben schwingen.
Macht es Ihnen etwas aus, hier zu warten — Fremde sind auf der Szene nicht
gerne gesehen.«
    »Sicher. Ich warte.«
    Nachdem sie gegangen war, vergingen die
Minuten langsam. Ich rutschte auf dem Flechtstuhl — der unbequem geworden war —
herum und versuchte, Goodhues Behauptung, daß Hilderly vielleicht ihr Vater
war, in Einklang zu bringen mit dem, was ich schon wußte. Ich nahm an, daß die
Möglichkeit bestand, daß Hilderly ihr Vater war und sie in einem verspäteten
Anfall von Schuldgefühlen in seinem Testament bedacht hatte. Aber das erklärte
das Vermächtnis an Tom Grant nicht. Und was war mit Heikkinen und Taylor?
Weitere Kinder, zu denen er sich nicht bekannt hatte? Konnte ein junger Mann
derart fruchtbar gewesen sein — das schien mir selbst bei der sexuellen
Freizügigkeit in den sechziger Jahren recht unwahrscheinlich.
    Als Goodhue zurückkam, standen
Schweißperlen auf ihrer Stirn. Sie wischte sie mit einem Taschentuch ab und
begann, ihr Make-up auszubessern. »Ich bin noch nie so spät gekommen«, sagte
sie. »Nie. Ich saß erst fünf Sekunden vor Beginn auf meinem Stuhl.«
    »Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß
Sie die Zeit vergessen.«
    »Das ist nicht Ihre Schuld. Also, ich
habe noch etwa zehn Minuten Zeit, dann muß ich ins Nachrichtenzimmer hinunter
und die Skripten mit meinem Partner durchgehen. Wo war ich?«
    »Ben und Nilla Goodhue.«
    »Richtig.« Als sie diese Namen hörte,
vergaß sie ihren Zeitmangel. Ein Ausdruck zärtlicher Erinnerung huschte über
ihr Gesicht, und sie setzte die Wimperntusche, die sie gerade benutzte, ab.
    »Ben und Nilla. Wunderbare Menschen.
Liebevolle Menschen. Er war Engländer, ein vollkommen korrekter Mensch, außer
wenn er mit uns Kindern auf dem Teppich herumtollte. Sie war Schwedin — Nilla
war die Kurzform von Gunnilla —, und sie konnte mit ihrem Lächeln ein ganzes
Zimmer erwärmen. Sie lebten im Portola-Viertel. Damals war es schön dort — ein
solides Arbeiterviertel mit einer gesunden ethnischen Mischung. Viele
italienische Delikatessengeschäfte und Läden, wo Farbige ihre Lebensmittel
kauften, und kleine Märkte an der Ecke. Die Leute hatten Gemüsegärten; der Mann
neben uns hielt sich Hühner. Die Gegend hat sich sehr verändert; jetzt gibt es
da sehr viel Bandenkriminalität, die von Bayview und Visitación Valley
herüberschwappt...« Sie brach ab und nahm die Wimperntusche wieder auf, so als
ob ihr plötzlich wieder eingefallen sei, wie wenig Zeit sie hatte.
    »Jedenfalls«, fuhr sie fort, »wuchs ich
da auf, in diesem großen Haus an der Ecke zusammen mit zwei bis zu sechs
anderen Kindern. Sie kamen und gingen. Ich blieb.«
    »Besuchte Ihre Mutter Sie?«
    »Gelegentlich, bis zu meinem vierten
Lebensjahr. Ich habe sie als hübsch, aber nicht sehr herzlich in Erinnerung.
Wenn sie mich im Arm hielt, hatte ich immer das

Weitere Kostenlose Bücher