Tote Pracht
weiter in Ruhe nachzudenken, ging ich hinunter und schaute in Raes Büro — das
ehemals mir gehört hatte und eigentlich ein umgebauter Schrank unter der Treppe
war. Das Licht war aus. Auf ihrem Schreibtisch sah es zwar nach Arbeit aus,
aber ihr Mantel war weg. Dann fiel mir ein, daß sie wohl noch mit dem
Beschattungsauftrag für die Spirituosenhandlung beschäftigt war.
Als ich wieder nach oben gehen wollte,
kam gerade Hank zur Tür herein. Er hatte eine Tüte von der Tacqueria auf der
Mission Street in der Hand. Sein Anblick erinnerte mich daran, wie unzulänglich
mein Mittagessen gewesen war, ein Schokoladenriegel, den ich auf der Fahrt nach
Point Reyes zu mir genommen hatte. »Arbeitest du lange?« fragte ich ihn.
»Ja. Und du?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, ich
will bald heimgehen. Hast du das Dokument schon fertig, das Tom Grant
unterschreiben soll?«
»Du hast es morgen früh auf dem
Schreibtisch.«
»Gut. Ich möchte noch mal mit ihm
sprechen, und dann habe ich einen guten Vorwand.« Hank schien schnell in sein
Büro zurückkehren zu wollen, aber ich hing im Flur herum, in der Hoffnung, daß
er mir Fragen zum Fall Hilderly stellen würde und ich noch nicht in mein
leeres, einsames Zuhause heimkehren mußte.
Er merkte, daß ich nicht gehen wollte
und daß ich seine Tacqueria-Tüte sehnsüchtig beäugte, und fragte: »Möchtest du
etwas davon? Es reicht für zwei.«
»Ich glaube nicht, daß ich
mexikanisches Essen jetzt vertragen könnte. Und ich will dich nicht von der
Arbeit abhalten.«
»Komm doch mit mir in die Küche. Du
kannst dich ja ein bißchen zu mir setzen und zumindest ein Glas Wein trinken.
Du kannst mir von Hilderly berichten, während ich esse.«
Ich folgte ihm, etwas betreten, weil er
erkannt hatte, wie sehr ich Gesellschaft nötig hatte.
Er fühlte sich jedoch zum Glück nicht
berufen, meine Gefühle zu sezieren. Während ich an meinem Chablis nippte und in
groben Zügen erzählte, was ich über Hilderly und Konsorten herausgefunden
hatte, aß er zwei Burritos, tropfte den ganzen Tisch mit Salsasoße und Fett
voll, zerknüllte dann die Verpackung und warf sie in Richtung des Abfalleimers,
der unter dem Spülbecken stand. Er traf aber nicht, und das Papier landete
neben dem Eimer. Hank zuckte die Achseln und holte sich etwas Kaffee.
»Kein Wunder, daß Anne-Marie nicht mit
dir leben kann«, sagte ich.
Er grinste, offensichtlich stolz auf
seine Schlamperei.
»Weil du gerade Anne-Marie erwähnst,
wußtest du, daß die Polizei die Kugel des Schützen aus einem ihrer Blumenkästen
auf unserer Veranda geholt hat?«
»Nein. Wann war das?«
»Heute morgen. Ich habe es vor ein paar
Stunden im Brand Ex gelesen.« Brand Ex ist der Spitzname für die
Abendzeitung, der Examiner. »Sieht aus wie eine 357er Magnum. Jetzt wird
sie von den Ballistikern untersucht. Wetten, daß es die gleiche ist wie die
anderen?«
»Dich scheint das recht kaltzulassen.
Bist du immer noch überzeugt, daß der Mordversuch reiner Zufall war?«
»Ich kann mir keinen vernünftigen
Zusammenhang vorstellen.« Aber sein Gesichtsausdruck zeigte Sorge, als er mit
seinem Kaffee zur Tür ging.
»Heh«, sagte ich, »du hast mir nicht
gesagt, was du von der Hilderly-Sache hältst.«
Ich stellte ihm die gleichen Fragen,
die ich mir auf der Rückfahrt in die Stadt gestellt hatte.
Aber Hanks Gedanken waren jetzt
eindeutig woanders. »Ich habe sowenig Ahnung wie du. Grab weiter.« Dann hob er
zum Abschied die Hand und ging den Flur hinunter.
Ich seufzte und schaute mein leeres
Weinglas an. Auch wenn Hank dringendere Sachen auf seinem Schreibtisch hatte,
hätte er... was? Wollte ich mit ihm den Fall besprechen, Erklärungen finden?
Oder wollte ich, daß er mir Gesellschaft leistete, meine Hand hielte? Zum
Teufel, was war bloß mit mir los? Ich war mir immer selbst genug gewesen, war
gerne allein und auf gewisse Weise sogar eine Einzelgängerin. Warum hatte ich
dann in letzter Zeit das dringende Bedürfnis, immer Menschen um mich zu haben?
Ich kannte das Gefühl von früher überhaupt nicht.
Aber das war, bevor du George Kostakos
kennengelernt hast, sagte meine innere Stimme. Das war, bevor du dich in ihn
verliebt hast.
»Halt die Klappe!« sagte ich zu ihr und
holte mir noch ein Glas Wein.
Nach einiger Zeit kam Larry Koslowski
mit Pam Ogata herein. Sie ist unsere neueste Teilhaberin und wie Larry auf
Wirtschaftsrecht spezialisiert. Wir redeten ein bißchen über Pams
Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche, und bald
Weitere Kostenlose Bücher