Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tote Pracht

Tote Pracht

Titel: Tote Pracht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
Vom Netzwerk:
irgendwie
ausgeschlossen und zurückgewiesen. Anne-Marie verließ mit dem Chirurgen
zusammen den Wartesaal.
    Sie macht mir doch Vorwürfe, dachte ich.
    Nach einer Weile fragte Greg: »Bist du
in Ordnung?«
    Ich machte eine Handbewegung, die ein
Ja ausdrücken sollte. Aber ich sagte: »Nicht so recht.«
    »Komm.« Er stand auf und zog an meiner
anderen Hand. »Ich fahr’ dich heim.«
    »Nein, in die Kanzlei. Mein Auto steht
noch dort.«
    Er zog mich aus dem Stuhl hoch, legte
mir die Hände auf die Schultern und schaute mir lange in die Augen. Was er dort
sah, schien ihn zu beruhigen, denn er nickte und führte mich zu seinem Wagen.
    Immer, wenn ich in einer schlechten
seelischen Verfassung bin, zieht es mich ans Wasser. Als Kind lief ich nur
einmal von zu Hause weg, aber da packte ich mein Stoffkänguruh, ein paar Comics
und drei Brote mit Erdnußbutter in einen kleinen Korb und fuhr mit dem Bus — wobei
ich zweimal umsteigen mußte — zu einem Strand, den meine Familie oft besuchte.
Mein Vater fand mich Stunden später dort und fuhr mich heim.
    An jenem Morgen um vier Uhr dreißig
trieben mich meine Depression und die Furcht, daß Reporter meine Haustür
belagerten, zum Point Lobos, wo ich vor Sonnenaufgang im Nebel am Rand der
Ruinen des alten Sutro-Bads saß und auf das Meer hinausstarrte, wo man die
schemenhaften Umrisse der Seehundfelsen erkennen konnte.
    Die Gegend dort zwischen Land’s End und
dem Meeresstrand ist normalerweise von Ausflugsbussen und Wohnmobilen
vollgestellt — die meiner Meinung nach sowieso viel zuviel Platz auf dieser
Erde einnehmen — , aber an diesem nebligen, regnerischen Morgen war die Gegend
verlassen. Nur ein paar Strandläufer, Spaziergänger mit ihren Hunden und ich
waren zu dieser frühen Stunde unterwegs. Ich konnte das Meer riechen, die
Seelöwen hören; die Nebelhörner bei der Brücke drüben antworteten auf ihre
Schreie. Ohne die kalte Feuchtigkeit an meinem Hosenboden zu spüren, saß ich auf
den Grundmauern des ehemaligen Wasserspielplatzes am Pazifik und dachte darüber
nach, wie die Dinge sein sollten und wie sie in Wirklichkeit sind.
    Die Menschen sollten ein
produktives Leben führen und nach Glück streben, selbst wenn sie es nie
erreichen können. Sie sollten sich nie als ohnmächtige Opfer fühlen, die dann
versuchen, Macht zu gewinnen, um andere zu Opfern zu machen. Sie sollten nicht
sinnlos sterben — weder auf dem Schlachtfeld noch auf den Straßen der Stadt.
Und sie sollten nicht in den Wahnsinn getrieben werden und Gewalt gegen andere
oder sich selbst richten.
    Natürlich wußte ich, daß die
Wirklichkeit völlig anders aussah. All diese Dinge passieren pausenlos. Als
Volk haben wir uns hohen Idealen verschrieben — Gleichheit, Frieden, Beendigung
des Tötens, Rettung der Wale — , aber nach den Erfahrungen in meinem Beruf
fragte ich mich, wie viele von uns überhaupt noch an diese Ziele glauben. Oder
ihre Durchsetzbarkeit angesichts der menschlichen Natur für möglich halten...
    Der Himmel war nun heller, aber der
Nebel machte keine Anstalten abzuziehen. Ich konnte die Felsen erkennen, wo die
Seelöwen ihre Köpfe hoben und bellten, aber den Übergang vom Meer zum Horizont
konnte ich nicht sehen. Obgleich es ein trüber Freitag zu werden versprach,
blieb ich sitzen und wartete auf ein Zeichen der Hoffnung. Als sich nach einer
Weile immer noch keines zeigte, stand ich auf und machte mich auf den Heimweg,
um wenigstens noch ein paar Stunden zu schlafen.
     
    Ich schlief unruhig, und als ich gegen
neun Uhr aufwachte, war ich noch deprimierter — Opfer des hartnäckigen Nebels
und der schrecklichen Ereignisse des Vorabends. Im Gegensatz zum Samstagmorgen
fiel mir der Traum, den ich vor dem Aufwachen gehabt hatte, sofort wieder in
all seiner beängstigenden Klarheit ein.
    Ich saß in einer Menschenmenge in einem
großen Auditorium. Auf der Bühne verteilte ein berühmter Mann, der wie ein
Gelehrter gekleidet war, Diplome. Perry Hilderly trat auf das Podium. Er trug
den traditionellen Hut und die Robe. Der Mann überreichte ihm ein Stück
Pergament und rühmte Perrys Klugheit. Dann wandte sich Perry der Menge zu und
hielt sein Diplom in die Höhe; seine blutigen Hände besudelten das Pergament;
das Publikum pfiff ihn aus.
    Als mir der Traum wieder einfiel, lief
mir ein unangenehmer Schauer über den Rücken. Ich zog die Decke höher, um mich
gegen die Kälte im Raum und in mir selbst zu schützen. Ich sollte mein Buch
über Träume befragen, um

Weitere Kostenlose Bücher